Text: Richard Michaelis / Foto: Pixabay
Als ich Astrid das erste Mal sehe, hatten wir bereits Sex zusammen. Zumindest, wenn man Onlineerotik zum Sex zählt. Gilt Onlinesex eigentlich als Fremdgehen? Als ich die Beifahrertür öffne und mich neben sie setze, bin ich irritiert. Ich hatte mir Astrid ganz anders vorgestellt.
„Hallo!“
Sie hat eine rauchige tiefe Stimme.
„Schön, dich kennenzulernen.“
Dieser Satz ist die Toplüge beim Premierendate.
„Wollen wir?“
Der Renault Espace ist riesig. Auf der Rückbank stehen zwei Kindersitze. Hinter der Heckklappe dreht sich ein aufgeregter Hund um seine eigene Achse. Ich würde gern Nö sagen und Richtung S-Bahn sprinten. Aber dann würde sie vielleicht die Heckklappe öffnen und “Fass!” rufen. Nein, Scherz. Ich bin einfach zu höflich für diese Welt.
„Unbedingt!“
Astrid hat mich in Fischbek an der S-Bahn abgeholt. Nun steuert sie einen Parkplatz in der nahegelegenen Heide an. Ich habe schon keine Lust mehr. Aber nun bin ich einmal hier.
„Wen haben wir denn da im Schlepptau bei unserer Ménage aux trois?“
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Das ist runder, voller als auf den Fotos. Nur die langen Haare mit den dunklen Korkenzieherlocken sind genauso wie erwartet.
„Das? Och, das ist Erwin.“
Ich drehe mich um.
„Hallo Erwin. Bist du auch immer schön brav? Oder frisst du die Dates von Frauchen immer zum Frühstück?“
Astrid setzt den Blinker und lacht.
„Nein. Der ist ganz harmlos. Vielleicht zu verspielt. Weiß gar nicht, ob er mich beschützt, wenn er es soll.“
„Na, du hast Glück. Bei mir muss er seinen Killerinstinkt heute nicht unter Beweis stellen.“
„Soso. Mal sehen.“
Sie parkt ein und ich kann sie in Ruhe betrachten. Sie ist kleiner und stämmiger als ich dachte. Und sie hat eine burschikose Art. Eher ein Kumpeltyp. Unter ihrem groben bunten Wollpullover zeichnen sich die Rundungen ihrer üppigen Brüste ab. Die kenne ich ja schon.
Astrid ist die erste Frau auf c-date, die mich wirklich interessiert. Wie üblich wechseln wir schnell auf Threema. Da kennt man weder den Namen noch die Telefonnummer des anderen. Nur seine ID. Um unangenehme Überraschungen durch eifersüchtige Partner zu vermeiden, wird die App zudem mit einem Passwort geschützt. Astrid hat mich zusätzlich stumm gestellt und die App verborgen. Die App ist also nicht auf der Benutzeroberfläche sichtbar. Sensible Daten verbannt sie in den Tresor. Und es gibt so einige sensible Daten zwischen uns. Die Vorsichtsmaßnahmen seien wichtig, denn ihr Mann sei Informatiker und kenne sich exzellent mit Technikfragen aus.
Astrid sendet mir zuerst ein Foto von sich auf ihrem Pferd. Sie schaut nach hinten, ihre üppige rötliche Lockenmähne ist mühsam bezwungen, die Wangen gerötet. Es ist ein geiler Schnappschuss. Ich bin sofort entflammt. Ab da texten wir täglich. Meist mehrfach. Die Nachrichten werden länger und ehrlicher. Ich habe das Gefühl, sie immer besser kennen zu lernen. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und ein Haus im Grünen. So weit, so erwartbar. Aber sie hat auch noch Träume. Unausgelebte. Ihr Geld verdient sie als Sachbearbeiterin in der Schulbehörde. Schon immer verbringt sie viel Zeit im Homeoffice. Ich bekomme zum ersten Mal eine Ahnung, was für eine willkommene Abwechslung allein der Chat mit einem aufmerksamen Gegenüber für vernachlässigte Frauen bedeutet. Für ein paar Wochen erfahre ich zahlreiche Details aus dem Familien- und Eheleben. Sofort und ungefiltert. Warum ihr Mann wütend den Thermomix durch die Gegend schleudert, wann die Kinder krank sind und wann sie mit ihrem Mann schläft. Das Treffen mit mir ist bereits verabredet, doch vorher muss sie beruflich für ein paar Tage nach Ungarn.
Am zweiten Abend ihrer Dienstreise liegen wir beide schon alkoholisiert im Bett. Und chatten. Die Nachrichten fliegen nur so hin und her zwischen dem Hotelzimmer in Budapest und der Zweizimmerwohnung in Eimsbüttel. Und werden immer vertraulicher. Und frecher. Und anzüglicher. Wir beschreiben unsere sexuellen Fantasien. Ich schicke ihr ein oben ohne Foto von mir im Halbdunkeln. Und köpfe die nächste Flasche Ratsherrn.
„Oh. Schön! Warte ich brauche einen Moment.“
Kurz darauf bekomme ihren nackten Oberkörper zurück. Kopflos.
„Der ist wunderschön! Ich streichle deine Wange, deinen Hals, fahre mit meinem Zeigefinger deine Lippen entlang.“
„Ich öffne meine Lippen und nehme deinen Finger auf, ich sauge heftig daran.“
„Ich ziehe ihn raus und streichle dein Ohrläppchen. Ich puste dir ganz leicht ins Ohr. Dann stecke ich meine Zunge in deine Ohrmuschel.“
„Das kitzelt. Und kribbelt. Ich habe Gänsehaut.“
„Ganz leise hauche ich dir ins Ohr: Du bist so heiß! Ich will dich! Jetzt!“
„Ich will dich auch! Sofort!“
„Halt. Ganz langsam. Ich umfasse deine Brüste und knete sie. Ich reibe deine Brustwarzen ganz zart zwischen Daumen und Zeigefinger.“
„Hast du was dagegen, wenn ich mich jetzt anfasse?“
Ich bin kurz verdutzt. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Ich hatte tatsächlich noch nie Cybersex. Einmal ist er mir angeboten worden. Ich chattete mit einer jungen Inderin auf der Sprachlernplattform buusu.com. Sie schrieb, ich solle meine Kamera anschalten, dann könnten wir uns ausziehen und uns ein bisschen anfassen. Und tatsächlich sah ich sie Sekunden später halbnackt vor der Kamera sitzen. Ich musste leider passen. Ich hatte mich auf der Spätschicht auf Arbeit aus Langeweile eingeloggt. Eine Fremdsprache zu lernen hätte mich bei Entdeckung sicher nicht den Job gekostet. Mir vor dem Bildschirm einen runterzuholen vielleicht schon eher.
„Nein. Natürlich nicht. Ganz im Gegenteil! Ich fasse mich jetzt auch an.“
Und das tue ich dann auch. Seit meiner Pubertät hole ich mir nur noch selten einen runter. Ich halte Masturbation für überschätzt. Aber jetzt habe ich Bock.
„Ja, mach das! Ich öffne deinen Gürtel. Dann den obersten Knopf deiner Jeans. Jetzt ziehe ich den Reißverschluss herunter. Und lege meine Hand auf deine Boxershorts.“
Ganz kurz überlege ich, ihr zu schreiben, dass das nicht stimmt und ich stattdessen einen rosa Stringtanga trage, entscheide mich dann aber doch dagegen. Humor kann auch hinderlich sein.
„Ich kann sie fühlen. Deine Hand. Deine Wärme. Ich habe einen Megaständer.“
„Ich fühle, wie es pulsiert in deiner Hose. Ich reibe mit meiner Hand vorsichtig an deinem Schwanz. Es fühlt sich spannend an.“
„Ich bin sehr erregt. Du machst das gut!“
Zeit für ein kleines Video. Ich drücke die Aufnahmetaste und stöhne ins Mikrofon. Unter der Bettdecke. Gar nicht so einfach. Erst bin ich ganz leise, dann etwas lauter, schneller, zwischendurch atme ich erregt durch die Nase, flüstere Astrids Namen. Ich drücke auf Senden.
„Ich kann nichts sehen. Es ist nur schwarz.“
„Dann empfehle ich mal die Lautstärke aufzudrehen :-)!“
Fünf Minuten Stille. Dann geht das Nachrichten-Ping-Pong weiter.
„Das macht mich richtig an. Ich geh steil und bin sooo feucht. Wahnsinn! Meine Hand wandert in deine Hose. Ich umfasse deinen Schwanz. Ich fühle das pochende Blut. Ich umfasse deine Eier. Sie liegen perfekt in meiner Hand.“
„Ich reiße mich los und küsse jetzt deinen Bauch! Meine Zunge kreist in deinem Buchnabel. Dann gehe ich ganz langsam tiefer…“
„Jamachweiter!“
Die Schreibfehler nehme zu.
„Ich küsse deine Becknknochen, dann dwine Schenkel… an den Knien küsse ih mich wieder hoch – an der Innendeite.“
Ich habe nasse Finger. Damit zu Tippen ist gar nicht so einfach.
„Das ist WUDERSCHÖN…! Halt ncht an!“
Ich wechsele auf Sprachnachricht. Das erscheint mir einfacher.
„Meine Zunge fährt an den Rändern deines Slips entlang. Dann küsse ich deine Vulva durch den Stoff hindurch. Ich kann dich riechen. Ich sauge den Geruch ganz tief ein.“
„Hm. Ja! Oh! Ich bin ganz feucht. Und sooo erregt!“
„Ich schiebe den Stoff zur Seite und fahre mit meiner Zungenspitze deine äußeren Lippen entlang. Dann ziehe ich die Vulva ganz leicht auf. Sie leuchtet rosa und lila, ist tropfnass. Ich fahre die inneren Lippen entlang.“
Mein Handy vibriert. Sophie ruft an. Ausgerechnet jetzt. WTF.
„Mach weiter! Ja! Das ist sehr sehr gut! Schön! Ich bin ultra erregt! Geil!“
„Ich umkreise deinen Kitzler. Dann sauge ich an ihm, dann an den Lippen.“
„Ich halts nicht mehr aus. Komm bitte zu mir! Ich will dich spüren! Jetzt!“
Sophie versucht es erneut. ICH KANN JETZT EINFACH NICHT!
„Ich bin über dir. Stütze mich auf Ellenbogen und Knien. Wir sind jetzt beide ganz nackt. Ich habe meinen Schwanz in der Hand. Und lasse meine Eichel an deiner Vulva entlangfahren. Immer wieder. Hoch und runter. Ich lasse dich zappeln.“
„Ich nehme deinen Schwanz in meine Hand und stecke ihn mir rein. Verrückt! Ich kann dich spüren in mir! Ich beuge und stemme mich dir entgegen. Fick mich!“
„Ich stoße dich. Schnell. Heftig. Ich atme heftig. Ich stöhne.“
Meine Nachttischlampe stürzt polternd zu Boden. Egal. Dann schicke ich Astrid ein Video, habe mich aber noch so unter Kontrolle, dass ich noch einmal prüfe, bevor ich auf „Senden“ drücke, ob es wirklich an Astrid und nicht aus Versehen an Sophie geht. Meine Hand umklammert in dem Clip meinen Ständer und bewegt sich langsam auf und ab. Es ist halbdunkel in meinem Zimmer, weswegen auf dem Video nur viel Andeutungen zu erkennen sind.
„Das gefällt mir! Ich stelle mir jetzt vor, wie du mich leckst. Und wie du mich dann von hinten nimmst. Ganz wild. Warte einen Moment!“
Ich warte fünf Bierschlucke und drei Minuten. Fast schwindet die Erregung schon wieder. Ping! Ihre Vulva als Close up prangt mir auf meinem Samsungdisplay entgegen. Sie ist rasiert und perfekt geformt. Wie ein helles Brötchen. Eine Form, die sich gerade zehntausende junge Frauen bei Schönheitsoperationen wünschen. Nun bin ich endgültig heiß gelaufen und taumele meinem Orgasmus entgegen. Von Astrid kommt minutenlang gar nichts mehr. Dann:
„Ich bin gleich zweimal gekommen. Es war hammergeil. Vor allem das Audio. Ich wusste gar nicht, dass ich so sehr auf was so stehe.“
Ich bin froh, dass ich WLAN habe. Der Chat wäre vor einigen Jahren per SMS und MMS noch ein teures Vergnügen gewesen. War Cybersex damals aus Kostengründen kürzer? Ein SMS-Quickie quasi? Aber mittlerweile haben ja fast alle eine Flat. Hat die Telefonflat einen Boom des Telefonsex ausgelöst? Auf dem Display lese ich: Drei Anrufe in Abwesenheit. Sie sind alle von Sophie. Ich rufe zurück:
„Hello! Ich habe schon mehrfach versucht…“
„Ach, Sorry, es war dummerweise noch stumm gestellt vom Dienst.“
„Kein Problem. Wie war dein Tag?“
„Ach, eigentlich langweilig. Ohne ungewohnte Höhepunkte. In Eimsbüttel nichts Neues.“
„Was machts du gerade?“
„Ähm, ich…lese die Süddeutsche. Hatte ich auf Arbeit nicht geschafft. Und du so?“
„Auch alles ok. Wir sehen uns ja morgen.“
„Ja, genau. Ich freue mich!“
Verrät meine Stimme mich? Später lese ich mir den Chat mit Astrid noch dreimal durch, schaue mir die Fotos immer wieder an. Dann lösche ich alles. Safety first.
Wir laufen durch den Wald der Schwarzen Berge und reden. Der Hund ist immer dabei, stört aber kaum. Auf einer Lichtung setzen wir uns auf Baumstämme und reden weiter. Wir sind befangen. Es ist merkwürdig die Reihenfolge umzudrehen und die erotischen Fantasien zuerst gemeinsam auszuleben, die primären Geschlechtsteile des Gegenübers zu kennen, bevor man ihn oder sie in natura erlebt. Vielleicht sollte man es dann bei einer reinen online-Beziehung belassen. Bestimmt muss Astrid gerade Ähnliches denken. Sie ist wirklich niedlich, lustig und schlau. Aber das wird trotzdem nix. Ich wünschte es wäre anders. Aber ich kann mich nicht überlisten.
Auf dem Rückweg sagt sie plötzlich:
„Es tut mir leid, wenn du jetzt enttäuscht bist und du dir etwas anderes erhofft hast. Ich brauche immer erst eine Aufwärmphase.“
Sie denkt offenbar, dass ich mir schon heute mehr versprochen habe.
„Nein, nein. Alles gut.“
Ich winke ab. Sie fährt mich zurück. An der S-Bahnhaltestelle halte ich meine Nase in die Sonne. Und bin deprimiert. Man soll sich einfach keine großen Hoffnungen machen. Ich sage ihr am nächsten Tag höflich ab. Sie ist enttäuscht, aber verständnisvoll. Wir schreiben auch nie wieder. An den heißen Cybersex denke ich aber noch häufig.