Schon wieder ein neuer Tag

Allein zu Hause im Bett. Der Beginn einer neuen Freundschaft ...

Text: Theresa Steigleder

Ich hasse es, wenn das passiert. Der Wecker klingelt. Gestern Abend habe ich vergessen, ihn auszuschalten. Die Melodie, die ertönt, ist leise und sanft. So wie das Knistern meiner Bettdecke, die weich über meine nackte Haut raschelt. Es ist das erste schöne Geräusch eines Tages. Es klingt nach Geborgenheit. Ich kann es hören, wie ich mich mit der grauen Baumwolle verbinde und mein gesamter Körper in ihr verschwindet. Sie hüllt mich ein und bindet mich feinmaschig an diese Welt. Jeden Morgen aufs Neue.

Es ist jetzt 7 Uhr und ich habe heute nichts zu tun. Die Welt sollte heute stillstehen für mich. Für mich und für so viele Andere. Ich wollte einfach nur schlafen. Träumen und schlafen. Auf den Straßen kann man ja heutzutage nicht mehr sein, um Abenteuer zu erleben. Die muss man sich schon selbst ausdenken. In den eigenen, tristen Alltag muss man sie füllen, um zu überleben in diesen langweiligen Zeiten.

Wie lange bin ich nicht gereist? Wie lange habe ich keine neuen Menschen kennengelernt, die mir fleischlich gegenüber stehen? Ich habe so lange nichts Neues gerochen.

Meine Erinnerung schwindet und wird durch einen Tagtraum ausgetauscht, der sich leise, zusammen mit den Sonnenstrahlen, durch meine Gardinen schlängelt. Der Duft seines Nackens kommt mir in den Sinn. Eine Aufregung macht sich in meiner Kehle breit. Träume sind wie ein vergängliches Verliebtsein. Ist es nicht ein viel zu kurzes Leben für so viele ungelebte Momente?

Ich schließe meine Augen und bevor sich meine morgendlichen Pastellfarben zu Träumen vermischen, fällt mir das Geschenk ein, das in meiner Nachttischschublade auf mich wartet. Eine Freundin hat es mir gemacht und es ist noch nicht auf allzu viel Aufmerksamkeit bei mir gestoßen. Ich öffne also die Schublade und greife nach dem Vibrator. Ich hatte lange keinen mehr, habe mir lieber mit Handarbeit die Zeit vertrieben, doch Sina war so nett, mir einen mitzubestellen. Sie hat in vielen Telegramgruppen gefragt, ob jemand auch etwas kaufen möchte. So tut man das heute scheinbar. Früher mussten wir das heimlich tun. Stillschweigend. Allein.

Er fühlt sich hart an und weich zugleich. Sein wellenförmiger Silikonkörper sucht Kontakt und wird immer wärmer in meinen Händen.

Hier sind wir nun, mein Freund, denke ich. Du und ich. Wir beide. Es ist kurz nach 7. Ein ganzer Tag breitet seine Arme für uns aus. Ich weiß nicht, wo unsere gemeinsame Reise hinführen wird. Du weißt es ebenso wenig, denn du kannst leider nicht denken. Und nicht reden. Kannst dich leider nicht bewegen und wirst auch leider nicht stöhnen, wenn du dich auf und ab in mir bewegst.

Wir müssen uns trotzdem anfreunden, denn es wird nur uns beide geben, hier an diesem Ort, an dem alles noch stiller zu stehen scheint als dort draußen. Hier sind wir, hier und jetzt. An diesem Platz, an dem all meine Erinnerungen wie eingefroren sind. Komm, lass uns versuchen, sie zu zersplittern, mein Freund! Lass uns tanzen, wie auf eisigen Pfützen und uns am Geräusch des Zerbrechens erfreuen. Zersprengen wollen wir sie, mit einem heißen Feuerwerk, so dass sie wieder fließen können und sich frei bewegen in der Welt.

Wir werden gerade richtig warm miteinander, wir beide. Ich kann es fühlen, mein Freund. Mein ganzer Körper bebt durch deine Energie. Und das ist erst der Anfang! Ein neues Abenteuer. Mein neuer Tag. Es ist die Geburt einer Freundschaft, im Jahre 2021.

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