Wir erobern uns den Begriff „pervers“ zurück

Ute Cohen hat mit der Regisseurin Beatrice Behn über ihren Film „The Artist and the Pervert“ gesprochen, in dem BDSM eine wichtige Rolle spielt.

Beatrice Behn, Chefredakteurin des Online-Magazins „Kino-Zeit“, und René Gebhardt, Freelance-Artdirector, drehten gemeinsam einen Dokumentarfilm über das Künstlerpaar Georg Friedrich Haas und Mollena Williams-Haas: Georg und Mollena leben in einer 24/7-BDSM-Beziehung in New York. Während Mollena die Rolle der Sklavin einnimmt, hat Georg eine dominante Position inne. Eine delikate Konstellation, zumal Mollena Nachfahrin von Sklaven ist und sich speziell gegen Rassismus engagiert, während Haas aus einer österreichischen Nazifamilie stammt.

 

Interviw: Ute Cohen
Fotos: privat, PR

Die Sonne scheint erbarmungslos auf den Neuköllner Asphalt hernieder. Die Berliner Luft flirrt, von fern trägt der Wind die ersten Takte von Billy Eilishs „Bad Guy“ herüber. Misstrauisch beäugen mich zwei ältere Damen, die auf der anderen Straßenseite die Köpfe zusammenstecken. Ich klingle bei „Behn“ und eile hinauf in den obersten Stock. Da steht sie schon, Beatrice Behn, die Regisseurin des Dokumentarfilms „The Artist and the Pervert“. Das helle blonde Haar umfasst ein liebliches Gesicht mit wachen Augen. Ein Nasenring funkelt im Sonnenlicht. Katzen, weiß, schwarz, gefleckt, streichen um die Beine der Hausherrin. Kurz darauf sitzen wir in einer hellen, lichten Küche bei Wasser und Espresso, an der Wand ein Plakat, das zwei Frauen zeigt: „You know I’m straight“ sagt die eine. Die Antwort der anderen: „So is spaghetti until it gets wet.“

Séparée: Frau Behn, ihr Film „The Artist and the Pervert“ ist „allen Liebenden“ gewidmet. Wer sind diese Liebenden?

Beatrice Behn: Potenziell alle Menschen auf dieser Erde, die jemand anderen lieben, egal in welcher Art. In seiner Essenz ist dieser Film ein Film über die Liebe. Im Falle der beiden Hauptdarsteller eine sehr radikale Liebe, weil sie radikal ehrlich sind. Sie sagen, was sie wollen und nicht wollen. In gewisser Hinsicht haben wir eine romantische Lovestory gemacht, ganz unabhängig von Kategorien, wie „queer“, „BDSM“, „cis-heteronormativ“. Im Endeffekt geht es doch darum, jemanden zu finden, mit dem man wirklich man selbst sein kann.

Mollena, die Hauptdarstellerin, beschreibt ihre Beziehung als eine Liebe zwischen zwei gleichberechtigten Menschen mit einer ungleichen Machtdynamik. Was hat man sich darunter vorstellen?

Die beiden sind zwei Menschen auf Augenhöhe, die sich lieben, die verstehen, dass beide gleiche Rechte und die gleiche Menschlichkeit haben. In einem langen Prozess haben sie ausdividiert, wie sie leben möchten. Mollena fand heraus, dass sie submissiv leben möchte, Georg dominant. Es ist eine Art „Service-Beziehung“, die von außen gesehen an eine klassische Beziehung aus den 50er-Jahren erinnert. Allerdings ist das Ganze hier sehr durchdacht und entwickelt sich. Auch die Machtstruktur ist nicht statisch. Genau das bereitet den beiden Lust. Mollena empfindet es als lustvoll, Georg das Leben so schön und einfach wie möglich zu machen: Georg das Frühstück zu bereiten, seine Karriere zu managen.

Hat die romantische Liebe ausgedient? Im 19. Jahrhundert war sie nach Novalis „das Amen des Universums“, bestimmte über die ganze Existenz eines Menschen.

Wir sollten den Begriff und die Idee der romantischen Liebe erweitern. Romantik sieht im BDSM vielleicht anders aus, die Essenz ist jedoch die gleiche wie in einer normalen Beziehung. 2019 dürfen wir polyamourös, Frauen dürfen sexuell aktiv sein. Jetzt müssen sich auch der Begriff und die Idee der romantischen Liebe mitentwickeln. Auf jeden Fall bin ich für unbeschränkte Liebe in alle Richtungen, solange alle Beteiligten das auch wollen und dem zustimmen. Zentral ist für mich in der Liebe Zustimmung, „consent“ wie man im Englischen sagt. Bei Georg und Mollena ist Zustimmung enorm wichtig, in normalen Beziehungen oftmals jedoch nicht.

Die israelische Soziologin Eva Illouz sieht in BDSM eine Lösung für die komplexen sexuellen Beziehungen in der Spätmoderne. Ist Liebe heute nur noch als Vertrag über Machtverhältnisse denkbar?

In erster Linie macht BDSM die Gefälle, die in jeder Machtbeziehung stecken, sichtbar. Viele Dinge, die man in einer Beziehung macht, sind ja erlernt, kulturell bedingt. BDSM hat potenziell die Macht, das Patriarchat auszuhebeln. Das wird von manchen Feministinnen gern vergessen: Mollena hat die Macht, nein zu sagen. Sie kann Unwucht und Unterwerfung beenden. Das ist fortschrittlich und emanzipatorisch, egal welchen Anschein es hat.

Mollena sieht sich als Managerin mit Recht auf Honorar. Was ist denn der Unterschied zur Rolle einer „normalen“ Ehefrau?

Erstens erfüllt sie diese Konstellation tatsächlich. Sie hat darüber nachgedacht, ob sie das tun möchte: Will ich meinem Mann die Socken rauslegen? Ihre Antwort lautet: Ja! Es ist eine Rückkoppelung auf sie selbst.

Kann das bei Ehefrauen nicht der Fall sein?

Das kann schon der Fall sein. Ich möchte aber postulieren, dass die meisten sich nicht differenziert damit auseinandergesetzt und eingewilligt haben. Sicher kann man aus einer klassischen Ehe auch Spaß und erotische Anziehung ziehen. Die Frage ist jedoch: Hab ich das durchdacht? Der zweite Punkt ist: Sie zieht Vorteile aus diesem Leben. Sie hat jetzt – das klingt total schlimm – einen weißen, reichen Mann an ihrer Seite mit absolut maximalsten Privilegien. Das bringt sie weiter.

Sie weiß aber auch den Unterschied zu ihrem früheren, sehr armen Leben zu schätzen. Ein Vertrag zur finanziellen Absicherung war ihr sehr wichtig.

Ja, Mollena ist aber so kompetent, dass sie ihr Leben auf die Reihe kriegen würde. Kopfabhängig, d. h. psychisch bzw. innerlich abhängig, ist eher Georg. Das ist auch anders als in klassischen Ehen.

Der Titel ist mehrdeutig: Wer ist Künstler, wer pervers? Wie kommen die Protagonisten mit diesen Zuschreibungen klar?

Für uns intern ist das eher ein Running Gag, weil die Frage ganz oft im Raum steht. So wie bei Homosexuellen: Wer von euch ist denn jetzt der Mann, wird uns hier die Frage gestellt: Wer ist denn jetzt der Künstler, wer der Perverse? Das rekurriert auf das Problem, das Menschen mit Kategorien haben. Als ob ein Perverser – in Anführungsstrichen – nicht auch Künstler sein könnte oder andersherum. Als könnte Kunst nicht von der Perversion leben, sich aus ihr nähren.

Pervers, kink … Das sind Begriffe, die auf eine prüde Gesellschaft schließen lassen. Ist es nicht an der Zeit, diese Begriffe über Bord zu werfen?

Pervers, so wie wir den Begriff benutzen, ist eine neue Aneignung. Wir erobern uns den Begriff „pervers“ zurück. Das ist vergleichbar mit der Neubesetzung des Begriffs „schwul“. Noch delikater ist es beim Begriff „Sklavin“, vor allem wenn ihn eine schwarze Frau auf sich anwendet. Unseren Protagonisten sind diese Zuschreibungen aber egal. Georg wird als einer der größten und wichtigsten Komponisten gehandelt, hadert damit sehr, hinterfragt dieses Genius-Prinzip und die damit verbundene Machtstruktur. Die Musikszene, in der sich Georg bewegt, befürchtet hingegen, dass wir mit diesem Film durch den menschlichen Ansatz Georgs Genie-Status zerstören könnten.

Seit Fifty Shades of Grey ist Kink im Mainstream angekommen. Was ist neu an Ihrer Wahrnehmung von BDSM?

Ich finde es sehr debattierbar, ob Kink im Mainstream angekommen ist. Eine eigenartige, gefährliche, falsche Idee ist im Mainstream angekommen und wird jetzt verwechselt mit dem, was BDSM und Kink ist. Viele denken, BDSM habe mit Gewalt zu tun. Gewalt kommt aber bei uns nicht vor. Machtdynamiken und Gewalt werden verwechselt. Das ist aber auch verständlich. Wenn man von außen draufschaut, sieht man zwei Leute, von denen einer den anderen auspeitscht. Man denkt sich dann: „Was zur Hölle ist das denn?“, weil man die ganze Erfahrungswelt mit Gefühlen, Hormonen, interessanten, erotischen Ideen von Schmerz nicht kennt. Da gibt es noch viele Vorurteile und falsche Vorstellungen. Wir wollen zum Nachdenken anregen, ob das denn alles so stimmt mit den Fifty Shades of Grey. In unserem Film ist es schwer, die beiden als Freaks zu sehen und nicht als Menschen.

Was ist denn für euch der Hauptunterschied zwischen diesen beiden BDSM-Ideen?

Der Hauptunterschied ist erst einmal, dass man nicht unfassbar jung, schön und reich sein muss, um BDSM zu betreiben. Man kann Probleme mit seinem Körper haben, schwarz sein, egal, man kann es ausprobieren. Fifty Shades of Grey hat außerdem nichts mit Konsens zu tun. Wenn es Einwilligung gibt, wird sie da immer wieder unterlaufen. Fifty Shades of Grey ist eher eine interessante Studie darüber, wie man Frauen missbrauchen kann, wie man die Idee von BDSM benutzt, um über Grenzen hinwegzugehen und auf eine bösartige Weise sadistisch ist, anstatt tatsächlich BDSM zu sein.

Die Eingangsszene ist eine Schlüsselszene: Haas hängt BDSM-Toys an Notenleitern. Mollena trägt einen Sklaven-Choker. Ist kinky Sexualität politisch?

Absolut, schon deshalb, weil Machtverhältnisse analysiert, hinterfragt und manchmal sogar umgedreht werden. Bei den beiden gibt es außerdem noch spezifische politische Themen: Die Frage der Ethnizität: Darf ich mich als schwarze Frau Sklavin nennen? Der Feminismus-Aspekt: Darf ich mich als Frau einem Mann unterwerfen? Im Falle Georgs: Er stammt aus einer Nazi-Familie, in der es sehr viel Gewalt gab.

Wie kommen Sie mit der zunehmenden Reglementierung von Sexualität in der Öffentlichkeit klar?

Wir sind gerade dabei, eine Art Orwell’schen Newspeak zu erfinden. Wir umschreiben „eine außergewöhnliche Liebesbeziehung“. Zwinker, zwinker. BDSM beispielsweise mit Leerzeichen dazwischen, damit das Wort nicht mehr ausgelesen werden kann. Das ist ein Riesenproblem. Es fängt mit den Marginalisierten an, dann kommt der Rest. Wir sind ja nicht die Einzigen: „Female Pleasure“, „Vulva 3.0“ – all diese Filmemacher hatten Probleme mit den Social Media. Auf der einen Seite wird man zensiert, auf der anderen Seite ist man mehr damit beschäftigt, Vorurteile auszuräumen als über den Inhalt des Films zu sprechen.

Musikkritiker sagen von Georg Friedrich Haas’ Werk, dass es „besitzergreifend“ sei, körperliche Reaktionen erwarte. Wirkt sich Haas’ Sexualität künstlerisch aus?

Welche Musik, die gut ist, macht nicht etwas körperlich mit einem? Ein Schaudern zum Beispiel kann eine Reaktion auf Musik sein. Künstlerisch wirkt sich Haas’ veränderte Körperlichkeit, d. h. dass er beschlossen hat, BDSM in ihrer Beziehung zu leben, darin aus, dass seine Musik einen kleinen Dialekt bekommen habe, wie er sagt. Das hat damit zu tun, dass er glücklich ist. Die Musik ist etwas fröhlicher geworden – natürlich immer noch krass dunkel, er ist Österreicher! – aber nicht radikal anders. Da würde man zu viel hineininterpretieren. Seine dominanten Neigungen spiegeln sich aber in seiner Musik wider … wie bei jedem anderen Komponisten auch. Haas sagt: „Die Noten sind da und das Orchester muss sie spielen.“ Machtdynamiken sind integriert und Haas spielt auch gern damit. Er lässt zum Beispiel einen Musiker mit Blasinstrument so lange spielen, bis er blau anläuft. Allerdings unterwerfen sich die meisten Musiker auch mit sehr viel Spaß seiner Musik.

 
 

Das gesamte Interview lesen Sie in Séparée No.22.

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