Epithetik – Das fehlende Stück

Ein Weg zu mehr Lebensqualität

Wenn das gefühlte Geschlecht nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, beginnt für betroffene Menschen oft ein langer und beschwerlicher Weg, der mit viel Leid gepflastert sein kann, um ein Leben zu führen, in welchem sie sich wohl und von der Gesellschaft anerkannt fühlen. Abhilfe kann eine Epithese bieten.

 

Text: Sophie-Claire Wieneke
Fotos: Sophie-Claire Wieneke, Aufmacher: M_P/Pixabay

Der gesellschaftliche, familiäre und oft auch innerpsychische Druck, einem der beiden klassischen Geschlechter, also Mann oder Frau entsprechen zu müssen, ist enorm hoch. Menschen, die diese gesellschaftlichen Vorstellungen nicht erfüllen, stehen oft jahrelang unter alltäglicher emotionaler Dauerbelastung. Das wirkt sich negativ auf ihre psychische Gesundheit aus und führt zu einer deutlich erhöhten Rate an Ängsten, Depressionen und Suizidversuchen. Sich diesem Druck entgegenzustellen und das Risiko einzugehen, Freunde, Familie und die Arbeitsstelle verlieren, um so leben zu können, wie man sich fühlt, erfordert viel Mut und Kraft. Auf dem Weg der sozialen und körperlichen Angleichung müssen diese Menschen oftmals große bürokratische und entwürdigende Hürden überwinden. Obwohl Transidentität keine psychische Erkrankung, sondern eine Normvariante der Identität ist, müssen sich Betroffene immer noch psychiatrischen und juristischen Begutachtungen unterziehen, um zu beweisen, dass sie sich wirklich fühlen, wie sie sich fühlen. Die Bedürfnisse und Möglichkeiten körperlicher Angleichung sind dabei sehr individuell, häufig bestehen diese in hormonellen und operativen Therapien. Ein alternativer Weg, fehlende, wichtige Körperteile zu ersetzen, wie zum Beispiel den Penis, führt nach Norderstedt zu Sofia Koskeridou.

Die gebürtige Griechin und gelernte Zahntechnikermeisterin lebt heute in Schleswig-Holstein und ist eine von rund 47 Epithetikerinnen in ganz Deutschland. Sie arbeitet zunehmend auch mit Patienten aus Österreich und der Schweiz und ist beruflich häufiger im Ausland unterwegs. In der Epithetik geht es darum, Nachbildungen von Körperteilen anzufertigen, die dabei möglichst natürlich aussehen. Man spricht dann von Epithesen. Am häufigsten kommen diese im Gesicht zum Einsatz. Es werden beispielsweise ganze Ohren, Nasen, Augen oder Wangenpartien nachgebildet. Für Patienten, die einen Unfall erlitten, mit Fehlbildungen geboren wurden oder durch eine Erkrankung Teile des Gesichts verloren haben, ist dies eine schonende Methode, um den Körper optisch wieder zu vervollständigen. „Der Unterschied zwischen einer Epithese und einer Prothese liegt in der Verwendung. Epithesen werden nur oberflächlich an den Körper angebracht und erfüllen keine Funktion. Sie sind ein rein optisches, ästhetisches Element. Prothesen hingegen ersetzen eine körperliche Funktion, wie eine Beinprothese, die das Laufen ermöglicht, oder eine Zahnprothese, die das Sprechen und Kauen zulässt.“ Genital-Epithesen vereinen Eigenschaften von beidem, da sie einen optischen, aber auch funktionalen Zweck erfüllen. Sofia hatte früher nicht das Ziel als Epithetikerin zu arbeiten. Es ist ein privater Schicksalsschlag, der Sofias berufliche Karriere radikal verändert: „Meine Schwester erkrankte schon im Kindesalter schwer. Viele Jahre später bekam sie Brustkrebs aufgrund der häufigen Radiotherapien. Bald stand fest, dass ihre Brust entfernt werden muss. Sie hat den Brustaufbau machen lassen, aber es hat nicht funktioniert. Eines Tages sagte sie dann halb aus Spaß und halb Ernst zu mir: „Sofia, kannst du mir nicht Brüste bauen? Ich kann ohne Haare, Wimpern und ohne Nägel leben, aber nicht ohne Brüste.“ Sie war der ausschlaggebende Grund für Sofia, sich beruflich neu zu orientieren. „Leider konnte ich meiner Schwester nicht helfen und ihr diesen letzten Wunsch erfüllen, sie verlor schließlich den Kampf gegen die Krebserkrankung.“ Doch Sofias Entschluss stand fest: sie möchte Menschen helfen, die ähnliches wie ihre Schwester durchgemacht haben. „Der Einstieg war gar nicht so leicht. Damals gab es diesen Beruf nicht. Ich habe an verschiedenen Weiterbildungen teilgenommen, um so das Fachwissen zu erwerben“, erklärt Sofia. Auch sie fand sich zu Beginn in der Gesichtsepithetik wieder: „Im Gesicht fängt alles an. Vor acht Jahren habe ich dann per Mail die erste Anfrage bekommen, ob ich auch Penisepithesen herstelle, so begann alles“, erinnert sie sich. Mittlerweile arbeitet sie seit mehr als 12 Jahren in diesem Beruf und hat das Institut für Epithetik gegründet. „Ich arbeite als Epithetikerin, aber ich besuche auch Tagungen und werde zu Selbsthilfegruppen und Kongressen der Sexualwissenschaft oder Qualitätszirkeln eingeladen, um beratend zur Seite zu stehen.“ Das Erstellen und Entwickeln von Penis-Hoden-Epithesen hat sich die selbstbewusste Griechin selbst beigebracht: „Ich kann die Penisse gar nicht zählen, die zu Beginn aus Frust an die Decke geflogen sind“, schildert sie und lacht ausgiebig. „Ich habe damals für mich selbst eine Penisepithese hergestellt. Wie soll ich denn etwas entwickeln, wenn ich nicht weiß, wie es sich anfühlt und funktioniert?“, erklärt sie ganz selbstverständlich. Ganze sechs Monate hat es gedauert, bis sie das erste Mal im Stehen urinieren konnte. „Die Muskulatur rund um die Blase muss sich entspannen, das muss man wirklich üben und trainieren“, stellt sie klar. Vom Tag der ersten Anfrage bis zur ersten erfolgreichen Genitalepithese streichen ganze zwei Jahre ins Land. In dieser Zeit glich Sofias Werkstatt einem Versuchslabor. Bei den Penis-Hoden-Epithesen gibt es eine Art, mit welcher der Mann im Stehen urinieren kann, und eine für den Geschlechtsverkehr mit eigener Stimulanz. Diese sind dann auch in der Herstellung verschieden. Sofia betont, dass die Epithesen das biologische Glied nicht ersetzen können: „Was ich mache, ist, den Menschen eine Alternative zu bieten, die funktionieren muss.“ Mittlerweile kommen Männer mit unterschiedlichen Geschichten zu der 56-jährigen nach Norderstedt. „Jedes Schicksal und jede Geschichte berührt mich“, versichert sie. Zu ihren Patientinnen und Patienten zählen jedoch nicht nur Trans-Männer, Trans-Frauen, intergeschlechtliche und non-binäre Menschen, sondern auch biologische Männer, die aufgrund einer Erkrankung oder eines Unfalls Teile des Penis oder der Hoden verloren haben. Auch individuelle Brustepithesen für Frauen sind möglich.

 
 

Den kompletten Beitrag, darin mehr zur individuellen Anpassung der Epithesen, lesen Sie in Séparée No.30.

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