Kreative Sexualität

Felix Ruckert gründete einst die legendäre "Schwelle 7" und betreibt nun sein frisch gegründetes „Institut für Körperforschung und sexuelle Kultur“. Ruckert erklärt anfängertauglich, wie Schmerz und Unterwerfung so populär werden konnten.

Interview: Brenda Strohmaier
Fotos: Franziska Hauser

Felix Ruckert, Jahrgang 1959, Choreograf und Tänzer, ist in der sexpositiven Welt weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. Das liegt unter anderem am Festival Xplore, das er seit 2004 regelmäßig in Berlin, manchmal auch in anderen Städten wie Rom, Barcelona und Sydney veranstaltet und bei dem die Teilnehmer sich in jeglicher Hinsicht sexuell ausprobieren können. Auf dem Programm stehen Workshops zu BDSM-Themen wie „Safe Single Tail Whipping“ oder „Being Bad“, aber auch „Tantrisches Speeddating“ und der „G-Spot des Mannes“. Legende ist Ruckerts „Schwelle 7“, ein Ort in Berlin-Wedding, den er als „irgendetwas zwischen Tanzstudio, BDSM-Klub und Kommune“ beschreibt. 2016 wurde der Raum gekündigt, seither war er auf der Suche nach einem neuen Platz für Experimente.

Fündig wurde er auf dem Holzmarkt in Mitte, einem Genossenschaftsprojekt an der Spree. Dort residiert seit Oktober 2020 das „Institut für Körperforschung und sexuelle Kultur“, kurz IKSK. Ebenda soll über Sexuelles philosophiert, geforscht, weitergebildet werden. Und geschwitzt: Auf dem Stundenplan stehen Körpererfahrungen wie Tanz- und Fitnessklassen sowie Orgasmic Yoga und Bondage Jams. Weil Corona auch das gemeinnützig organisierte Institut plagt, hat Ruckert immerhin ausgiebig Zeit für einen BDSM-Crashkurs in Interviewform. Machen wir es uns halbwegs virussafe über Eck auf dem großen, weißen Sofa gemütlich.

Brenda Strohmaier: Der amerikanische Sexkolumnist Dan Savage hat gesagt, BDSM sei wie Räuber und Gendarm für Erwachsene. Nur sei man untenrum nackt. Wie definieren Sie es?

Felix Ruckert: Auf jeden Fall als Spiel. Nackt muss nicht sein. Es kann auch eine Art von Theater sein, eine Inszenierung. Es kann therapeutisch sein, meditativ, oder einfach ein Vergnügen. Das Faszinierende an BDSM ist ja, dass es ganz unterschiedliche Facetten hat.

BDSM steht für „Bondage & Disziplin, Dominanz & Submission, Sadismus & Masochismus“. Wann wurde SM zu diesem Bandwurm?

Das ist in den USA schon in den 1970er und 80er-Jahren passiert, zunächst in Kalifornien. Dort erweiterte man SM um BD, um die Bondage- und Disziplin-Leute mit zu meinen. Ich verwende den Begriff BDSM kaum, weil ich ihn immer noch zu eng finde. Ich spreche lieber von kreativer Sexualität oder nicht-normativer Sexualität. Ich glaube wirklich, dass es für jedes Individuum eine eigene Form von Sexualität gibt.

Wie verwenden Sie kink?

Im Grunde meint es das gleiche wie BDSM, ist nur ein bisschen offener. Wobei ich eben gegen jegliche Schubladen bin. Ich finde auch viele Leute kinky, die sich selbst für normal halten. Zum Beispiel Menschen, die heiraten. Eine Hochzeit ist auch ein Riesenritual und für viele sogar ein Fetisch, also etwas, das sie inspiriert, sie anregt. Der Mensch hat schon immer um die Sexualität herum seltsame Rituale kreiert, wie die Beschneidung. Die hat vielleicht früher mal medizinisch Sinn gemacht, aber heute? Warum machen die Leute so viel Bohei um die Sexualität?

Ja, warum? Dieser Tage genügt Blümchensex ja nicht mehr. Ich höre von Sexualtherapeuten, dass Klient*innen ständig wissen wollen, ob sie auch mal BDSM ausprobieren müssten.

Bis vor kurzem war Sexualität sehr unterdrückt und beschränkt auf bestimmte Kontexte, sie war privat und geheim. Deswegen wissen wir so wenig über das, was Leute privat tun. Außerdem gibt es eine idealisierte Darstellung von Sexualität in Literatur und Film. Die Leute haben eine entsprechend verengte Vorstellung.

Weshalb heute Menschen glauben, Sie müssten „Shades of Grey“ nachinszenieren?

Auf jeden Fall hat der Erfolg der Geschichte gezeigt, dass BDSM kompatibel mit dem Mainstream wird, wenn man das Thema romantisch aufbereitet. Da steht eine heteronormative Beziehung zwischen Mann und Frau im Mittelpunkt, und dann passen auch Fesselspiele rein. Ich sehe die Entstehung von BDSM aber eher in Zusammenhang mit Emanzipation und Liberalisierung. Die BDSM-Szene gibt es nur in Ländern, in denen relativ lange Frieden herrscht, eine Emanzipation der Frauen stattgefunden hat und sich die homosexuelle Szene emanzipiert hat.

Es gibt angeblich deutlich mehr submissive Frauen als dominante. Warum lässt sich die frisch emanzipierte Frau so gerne vermöbeln?

Im Grunde ist es gleichgültig, ob ich mich entscheide, submissiv oder dominant zu sein. Entscheidend ist, dass ich meinen Körper in Besitz nehme. Das ist nicht selbstverständlich. Bis vor wenigen Jahren haben die Körper der Frauen den Männern gehört, und die Körper der Männer den reichen, mächtigen Männern. Die Idee, dass wir mit unserem Körper machen können, was wir wollen, ist relativ neu. Klar, dass die Leute anfangen zu experimentieren. Wenn ich mich gut und stark fühle, während ich auf dem Boden krieche und Speichel von jemand anderem lecke, ist das doch okay!

Ich verstehe trotzdem noch nicht, warum genau es geil ist, Speichel zu lecken oder Schmerzen zu empfinden?

SM-Praktiken zielen darauf ab, in einer kontrollierten Weise negative Emotionen zu erzeugen und sie zur erotisieren. Empfindungen, die im Alltag als negativ wahrgenommen werden, können im sexuellen Spiel als lustvoll empfunden werden. Man denke nur an die Intensität von Versöhnungssex. Schmerz, Angst, Wut – all diese Gefühle haben im Spiel Platz. Zu dem Schmerz gehört dann die Lust, zu der Angst das Vertrauen, zu der Trauer die Freude und so weiter. Das ist das große Verdienst von BDSM. Es bietet Formate wie Dominanz-Submissions-Spiele oder Schmerz-Lust-Szenarien, die viel Spielraum lassen für individuelle Inszenierungen großer Gefühle.

Das Klischee ist eher: „Da wird jemand ausgepeitscht, und das erregt diesen Menschen sexuell.“

Es trifft nur auf vielleicht fünf Prozent von Masochisten zu, dass sie durch reinen Schmerz erregt werden. Für die große Mehrheit der SM-Praktizierenden ist es immer die Kombination von angenehmer und unangenehmer Berührung und vor allem der Kontext. Jeder, der in die Sauna geht, weiß, dass nach der Hitze eine kalte Dusche toll ist. Wenn ich jemanden sanft behandele und streichle und plötzlich wird der Griff härter, geht in den Schmerz hinein, wird es ein viel intensiveres Erleben. Wenn ich wieder zurückzugehe in das Sanfte, wird das Sanfte noch sanfter.

Es geht also um den Kontrast?

Genau, um den Kontrast und die Bandbreite. Zudem ist Schmerz etwas extrem Relatives. Auch ein Marathonläufer geht erst einmal über seine Schmerzgrenze, und der Körper reagiert dann mit einer Hormonausschüttung, Adrenalin, Endorphine und so weiter, das so genannte „Runners High“. Der Körper dopt sich durch Schmerzimpakt. Bei Aktivitäten wie Bungee Jumping oder Drachenfliegen geht es dagegen um die Überwindung von Angst. Der gewünschte Effekt ist der gleiche, mein Körper produziert körpereigene Stoffe, die mir ein Glücksgefühl verschaffen. BDSM ermöglicht das in einer viel ungefährlicheren Variante als Bungee Jumping oder Extrembergsteigen. Nur weil BDSM die Sexualität mit reinbringt, wird dieser körpereigene Rausch als etwas Gefährliches oder Unmoralisches empfunden.

Sie sind Experte für Bondage, können elegant fesseln. Wie wird man das?

Ich war in den 1990ern in Japan als Choreograf unterwegs. Da sah ich spezielle Magazine, wie es sie in Europa noch nicht gab. Ich fing an, die Bilder nachzufesseln. Anfang der Nullerjahre kam das langsam nach Europa. Dann habe ich die Schwelle 7 eröffnet und selbst japanische Fesselexperten nach Europa eingeladen.

Klingt, als hätten Sie die Schwelle 7 ins Leben gerufen, um in Ruhe fesseln zu können.

Ich hab die „Schwelle“ gegründet, weil ich eine Tanz-Company hatte und viele meiner Projekte nicht mehr in einen Theaterkontext passten. Ich hatte schon länger damit experimentiert, sexuelle Themen mit in die Kunst zu nehmen, den Körper zur Bühne zu machen. Diese Projekte hatten so einen Erfolg, dass ich gefühlt habe, dass ich da etwas anrühre, das weit über Tanz hinausgeht. So haben sich meine Veranstaltungen verändert, weg vom klassischen Bühnenprogramm hin zu mehr partizipativen Formaten.

Nochmal zum Fesseln. Können Sie die Faszination erklären?

90 Prozent der Leute, die mit Kink anfangen, steigen mit Fesseln ein. Wahrscheinlich, weil es so klar eine Hierarchie einführt. Ich bin gefesselt, dann bin ich der Passive, ich fessle, dann bin ich der Aktive. Schon dieses klare Rollenbild kann für viele Leute aufregend sein und bietet zugleich Halt. Wenn ich mich hingebe und ausliefere, gebe ich Verantwortung für meine Sexualität ab. Das ist für viele eine Befreiung, weil man sonst in der Sexualität vielleicht glaubt, etwas leisten zu müssen. Außerdem hat gefesselt werden diesen physiologischen Aspekt des Gebundenseins. Ich kann nicht weg, bin hilflos. Da kommt wieder die Angst ins Spiel, Angst vor Kontrollverlust. Zugleich bin ich in dem Moment, in dem ich mich hingebe, gehalten. Das kann man als Beziehungsmetapher sehen: Da ist eine Kontrolle, die mir eine Freiheit erlaubt.

Und was ist für den Aktiven so attraktiv?

Der Fesselnde ist eingeladen, mit einem Körper zu spielen. Der Körper wird ihm überlassen, ist ausgeliefert, scheinbar völlig verfügbar. Der Lustgewinn des Dominanten ist, dass er die Kontrolle ausübt und damit die eigenen Ängste an eine Stellvertretung abgibt. Der Gefesselte macht, was der Fesselnde sich nicht traut.

Das vollständige Interview lesen Sie in Séparée No.28.

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