Sexualität ist eine Kompetenz

Frauen und Männer wissen häufig zu wenig über funktionelle sexuelle Abläufe und haben keine Worte für das, was sie sich wünschen oder empfinden. Beim Sexocorporel-Konzept liegt die Aufmerksamkeit vor allem auf der Wahrnehmung des eigenen Körpers.

Die Sexualberaterin Gitta Arntzen macht die Erfahrung, dass Frauen und Männer häufig zu wenig über funktionelle sexuelle Abläufe wissen und keine Worte für das haben, was sie sich wünschen oder empfinden. Sie arbeitet in ihren Workshops und Beratungen u.a. nach dem Sexocorporel-Konzept, bei dem die Aufmerksamkeit vor allem auf der Wahrnehmung des eigenen Körpers liegt.

 

Text:  Aurelia Glück
Fotos: Erika Lust, Susanne Jutzeler_suju-foto_Pixabay

Was ist Sexocorporel?

Die dualistische Trennung von Körper und Geist ist künstlich geschaffen. Wir sind gesellschaftlich auf eine vertikale Sichtweise von Körper und Geist geprägt: Der Geist ist oben (und gut), die Sexualität ist unten (und schlecht). Auch alle psychotherapeutischen Modelle sind von dieser Wertung durchdrungen. Tauchen sexuelle Störungen auf, werden sie gemeinhin lediglich als Symptome genereller psychischer Störungen verstanden. Im Sexocorporel liegt der Fokus der Behandlung von sexuellen Problemen auf direkten kausalen Zusammenhängen. Der Ansatz bietet eine fundierte Theorie und lehrt das „Handwerkszeug“, um es Menschen zu ermöglichen, überhaupt lustvolle Erfahrungen machen zu können. So stößt er Lernprozesse an, die in der persönlichen und sozialen Sexualentwicklung nicht genug gefördert wurden.

Das Konzept des Sexocorporel wurde in den 70ern und 80ern von Prof. Jean-Yves Desjardins an der Fakultät für Sexualstudien der Universität Montreal entwickelt. Es beschreibt sexuelle Funktionsweisen sowohl auf körperlich-sinnlicher als auch auf emotionaler Ebene und bietet lernbare Erweiterungen der sexuellen Ausdrucks- und Erlebensmöglichkeiten. Dabei geht der Ansatz von einem Modell sexueller Gesundheit aus. Das bedeutet, Störungen und Dysfunktionen werden nicht als defizitär betrachtet, sondern es geht darum, bestehende Ressourcen zu erweitern. Das Besondere am Sexocorporel ist, dass er sich auch mit der genital-sexuellen Funktionsebene des Körpers beim Liebesspiel beschäftigt.

Der Sexocorporel betrachtet den Menschen als untrennbare körperlich-seelische Einheit und untersucht vier Komponenten, die immer im Zusammenspiel betrachtet werden:

  • physiologische Komponenten: Erregungsfunktionen, Sinnesempfindungen, die biologische Basis

  • sexodynamische Komponenten: sexuelle Selbstsicherheit, Fantasien und Anziehungscodes

  • kognitive Komponenten: Kenntnisse, Werte und Normen

  • Beziehungskomponenten: Liebesgefühl, Bindungsfähigkeit

 

Wie gestaltet sich eine Sitzung bei einer Sexocorporel-Therapeutin?

In den sexualtherapeutischen Sitzungen geht es um die Erweiterung sexueller Fähigkeiten, sowohl im Hinblick auf inneres Erleben, als auch auf Ausdrucksmöglichkeiten.

Eine Therapeutin bespricht mit ihren Klient*innen ausführlich die verschiedensten Aspekte der Sexualität anhand der Frage: „Auf welche Weise nutzt du bisher deine körperlichen und emotionalen Möglichkeiten, um sexuelle Erregung und Lust zu erleben?“ Bereits diese Frage unterscheidet den Ansatz von klassischen Psycho- und Sexualtherapien. Doch es finden nicht nur Gespräche statt. Die Sexocorporel-Therapeutin führt Klient*innen mit deren Zustimmung in den Sitzungen auch durch körperliche Übungen, die dann Zuhause selbständig fortgeführt werden. Eine Psychotherapeutin, die Sexualtherapie anbietet, kann aufgrund ihres beruflichen Ethos nicht so weit mitgehen.

Leider gibt es bislang keine staatlich anerkannte Ausbildung zur Sexualberatung/-therapie, die den Körper konkret mit einbezieht – so wie die Sexualberaterin Gitta Arntzen es praktiziert. Ihre berufliche Kompetenz hat sie in verschiedenen Ausbildungsgängen erworben und insbesondere die Tantramassage und das Sexocorporel-Konzept waren für sie prägend.

Gitta Arntzen macht die Erfahrung, dass im Bereich der Sexualität viele Vorurteile und Nicht-Wissen auf Seiten beider Geschlechter existieren. Wenn wir in die Pubertät hineinwachsen, hören wir dieses und jenes und nehmen, oft ohne es zu hinterfragen, das Gehörte mit ins Erwachsenenalter. Jungs erhalten ihre sexuelle Aufklärung oft durch Pornos. Dann entwickeln sie die Vorstellung, dass Sexualität vor allem schnell und ohne Vorspiel stattfindet. Sie erwarten, dass die Frau auch ohne zärtliche Anbahnung und Annäherung erregt ist, laut stöhnt und zum Orgasmus kommt. Viele Frauen tragen die Erwartung in sich, dass der Mann dafür verantwortlich ist, dass sie sexuell erfüllt sind. Damit geraten Männer sehr unter Druck. Wir müssen uns fragen „Ist es wirklich sein Job, dafür zu sorgen, dass ich zum Höhepunkt komme? Kann er das überhaupt?“ Es ist wichtig, dass wir Frauen mehr über unsere eigenen Bedürfnisse wissen und kommunizieren, was wir uns wünschen.

Rein physiologisch betrachtet ist der Orgasmus ein Reflex, den man gar nicht „machen“ kann. Letztendlich hängt er davon ab, wie gut wir unseren Körper kennen und dass wir das tun, was lustvoll ist. Wir können uns erregen, aber wann sich der Orgasmus auslöst, das wissen wir nicht, das macht es ja auch so spannend. Er kommt irgendwann. Manchmal auch nicht. Sexualität hat etwas mit Ladung zu tun. Es ist wie in der Physik. Man braucht, wenn man eine sexuelle Entladung anstrebt, vorher Erregung. Und davon braucht jeder Mensch unterschiedlich viel. Jean-Yves Desjardins schreibt, dass es 50 Prozent der Menschen, die mit einem sexuellen Problem zum Therapeuten gehen, an Verständnis für die Grundlagen fehlt. Darunter versteht er, dass sie nicht wissen, wie ein Mann oder eine Frau sich über die Jahre lustvoll erregt. Hier braucht es Aufklärung und Begleitung. Oft ist es nicht notwendig, seine Kindheit zu durchforsten, um nach Störungen zu suchen. Wir sind einfach oft nicht gut informiert und nehmen die Impulse unseres Körpers nicht wahr.

 
 

Den vollständigen Beitrag lesen Sie in Séparée No.26.

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