Probleme mit Ihrer Zweierbeziehung? Keine Lust mehr auf die Wahl zwischen Einengung und Unehrlichkeit? Christopher Gottwald lebt und lehrt ein alternatives, aber keineswegs einfacheres Modell. Unsere Autorin Beate Kruse hat ihn besucht und nachgefragt.
Text: Beate Kruse
Fotos: Thomas Boll
Sex oder Beziehungstralala mit einer Person bringen mich schon an den Rand des Wahnsinns – wie wäre das erst, mit sieben Partnern rumzustümpern, oder ab wann sagt man poly? Nehmen diese Sexmaniacs, die gleich mehrere Partner zu brauchen meinen, den Einsamen (mir!), nicht den potenziellen Mr. Right weg? Und überhaupt – wieso bitteschön kriegt das Rumgevögel irgendwelcher Typen einen beschönigenden Namen? Zu Polyamorie hab ich bis jetzt vor allem Vorurteile gehortet. Aber weil irgendwas ja die Lösung für meine zahlreichen Probleme mit der Liebe sein muss und man nicht wissen kann, ob das am Ende nicht Polyamorie ist, frage ich mal nach.
Christopher Gottwald war früher Schauspieler und Regisseur, jetzt ist er Lehrer für Polyamorie, Sex und Beziehung. Sein Schlafzimmer, das man natürlich sehen will bei dem Thema und das er so bereitwillig vorzeigt, als wär das total üblich bei uns Menschen, sieht schon mal nicht nach erotischer Sudelhöhle aus sondern wie aus‘m Bilderbuch. Und zwar »Die sieben Zwerge«: Längs des Raumes eine große, erhöhte Liegefläche mit Blick über die Dächer von Berlin. Fünf Kopfkissen, dazu drei große Bettdecken, das Bettzeug knallig rot und pink. Dazwischen eine kleine hellblaue Wärmflasche. Klar, der Mann kommt beim Füßewärmen ohne Hilfsmittel nicht hinterher, denke ich. Sein Arbeitsraum ist spartanisch. Hier wird sich bewegt, sieht man. Kein Tisch, keine Stühle, viel Platz. Das bisschen Zeug, das rumliegt, räumt er weg, um sich dann mir zuzuwenden. Obwohl er müde aussieht, ist er aufmerksam und freundlich, stellt ein Tablett mit Kerze und einer Amaryllis hin, kocht Tee, setzt sich mir gegenüber auf den Boden und beantwortet bereitwillig jede meiner Fragen, und zwar ohne einen einzigen „wirklich, auf diesem Niveau sind wir jetzt“-Blick. Mit wie vielen Frauen gleichzeitig hatte er schon Sex, frage ich sensationslüstern. „Mit zweien.“ Halb bin ich enttäuscht und halb beruhigt. Zu dritt kann ich eventuell schaffen, falls davon mein Lebensglück abhängen sollte. Sex mal kurz beiseite, holt er mich aus meinem Albtraum, in dem ich ausgezehrt und schweißüberströmt im Sekundentakt erst rechts und dann links und dann wieder rechts bla… äh … küsse. „Polyamorie ist offiziell eine Lebensform, bei der man mehrere Partnerinnen und Partner gleichzeitig hat, unter der Voraussetzung, dass alle Beteiligten davon wissen und damit einverstanden sind.“ Und inoffiziell? „Meiner Meinung nach“, sagt er, „kann man auch zu zweit polyamor sein, die Hauptsache ist, dass wir ehrlich zueinander sind und dem anderen alle Freiheiten zugestehen, sofern sie nicht unseren Vereinbarungen widersprechen.“
Das soll in konventionellen Partnerschaften nicht so sein? Klingt doch hervorragend. Aber nein, fällt mir ein, „alle Freiheiten zugestehen“ sowieso nicht, und mit der Ehrlichkeit ist es zumindest nach meiner Erfahrung auch nicht weit her.
Selbst etwas wie Solo-Polyamorie passt in diese zweite Definition. Das wären dann vielleicht die weltweit drei Singles, stelle ich mir vor, die nicht beharrlich davon träumen, ihre andere Hälfte zu finden. Aber ohne dieses Solo klingt Polyamorie ganz schön anstrengend. Mit wie vielen ist er denn zusammen? „Was bedeutet zusammen sein, wenn Sex nicht mehr das ausschlaggebende Kriterium ist?“, fragt er und erzählt, dass er dauerhaft einen relativ großen Kreis von Leuten um sich hat, mit denen er aber nicht unbedingt Sex hat, mit manchen gibt es intime Gespräche, mit manchen Kuscheln. Enge Beziehungen pflegt er zur Zeit mit drei Frauen und einem Mann, zwei davon schon mehrere Jahre.
Beziehungsarbeit mit vier oder mehr Partnern? Heiliger Strohsack. Dagegen kommt mir eine Ehe in stillschweigendem Einverständnis fremdgehender Partner geradezu wie eine Kreuzfahrt vor. Gottwald grinst nur. „Beziehung sollte für mich eine Entwicklungskooperation sein“, sagt er dann, und als hätte ich ausgesprochen, dass in meinen Ohren dieses Wort hässlich nach Vertragsverhandlungen und Selbstoptimierung klingt, ergänzt er: „Liebesforschungspartnerschaft hat auch mal jemand gesagt.“
„Manche finden, man muss quasi erleuchtet sein, um nach diesem Konzept zu leben“, bestätigt er, als ich mutmaße, dass allein die Eifersucht doch sicher jeden Zweiten immer wieder in tiefe Krisen stürzt. „Aber man lernt ja, das entwickelt sich.“ Zuerst kann man sich mit Absprachen behelfen – kein Sex mit anderen in meiner Wohnung oder so etwas – aber er selbst braucht das nicht mehr. Er kann sich bedingungslos freuen, wenn es seinen Partnerinnen und Partnern mit jemand anders gutgeht. Ich glaube ihm die Abgeklärtheit nicht ganz, aber eigentlich ist das egal, erzeugt doch die Rolle der/des Geliebten oder des/der Betrogenen in konventionellen Partnerschaften auch jede Menge Leid, und bei der Polyamorie weiß man zumindest, woran man ist.
Gottwald praktiziert regelmäßige Zwiegespräche von einer halben bis zu zwei Stunden, in denen jeweils ein Partner spricht, der andere hört nur zu, dann wird gewechselt. Dabei kann man seine eigene und die Innenwelt seines Gegenübers erleben, üben, nichts so hinzudrehen, dass es weniger schmerzhaft für den Partner ist. „Mir ist Ehrlichkeit wichtiger als Treue“, sagt Gottwald, der sonst eher sanft spricht, mit fester Stimme, und es wirkt, als hätte er das in seinen Kursen schon oft auf Flipcharts geschrieben. Am Anfang einer Beziehung ist das leicht, sagt er, da gefällt einem ja alles an der Person, in die man verliebt ist, aber sobald man anfängt, nicht mehr alles, was einen bewegt, zu erzählen, geht die Verbundenheit verloren. Noch so ein Flipchart-Wort: Verbundenheit.
Schlechte Nachrichten also für alle, die Polyamorie für die Lizenz zum wild Rumvögeln hielten. Das Ganze erfordert jede Menge Selbstreflexion, erwachsenes Handeln, Gespräche, Absprachen. Logistik auch, stelle ich mir vor, damit alle halbwegs bekommen, was sie sich wünschen. Aber seltsamerweise sieht der Mann nicht die Bohne gestresst aus, wie er da mir gegenüber auf der weinroten Matte lümmelt und nachdenkt. Der wirkt höchst lebendig und zufrieden. Augen wie sprudelnd kalter Bergbach. „Wie oft Sex?“, frage ich heiser. „Das wechselt.“ Er überlegt. „Drei bis fünfmal pro Woche im Moment.“ Aber das sei gar nicht so wichtig, viele Ehen halten die Partner – nicht nur diesbezüglich sondern in vielerlei Hinsicht – im Mangel. Ist der Mangel erst mal behoben, ist auch die Gier weg, sagt er, und ich ahne: Wenn ich irgendwann nicht mehr die ganze Zeit damit beschäftigt bin, Sex zu wollen, kann ich Großes leisten für diesen Planeten. Im Moment bin ich eher gierig, aber ich blicke konzentriert auf meine Notizen.
Wozu braucht es ein Konzept für die Liebe? Wieso muss das gleich wieder ideologisch unterfüttert und ins Internet gestellt werden? Polyamorie setzt sich aus dem griechischen Wort polýs (viele) und dem lateinischen amor (Liebe) zusammen. Braucht man so eine begriffliche Krücke? Wieso macht man nicht einfach, worauf man Lust hat, zumal in Zeiten von finanzieller Selbständigkeit und problemloser Verhütung, und lässt sein Privatleben bei sich, statt andere damit zu irritieren? …
Wie das Gespräch weiter verlief, lesen Sie in Séparée No.14.
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