Lolita hat sich in unsere Köpfe gebrannt als ein kokettes Ding, das den Männern den Kopf verdreht. Die dunkle Seite des Mondes verdrängen wir. Wir sehen nur das Spiel, den Lolicon, den Mann, der sich zu einem pubertierenden Mädchen hingezogen fühlt. Höchste Zeit, die Augen zu öffnen und Lolita in die Seele zu schauen!
Text: Ute Cohen
Illustration: Sherin
Lolitas überall! Die Online-Shops quellen über mit Schulmädchen-Looks. Miley Cyrus schwingt ihren mädchenhaften Körper nackt auf Abrissbirnen und auf Instagram lassen sich Zwölfjährige in Fail-Videos Eis aufs T-Shirt tropfen. Ganz zu schweigen von Berlins Hotspots, an denen blonde Elfen mit Pony und weißem Kleid an Szenegrößen und alternden Bonvivants vorbeischweben. Blonde Zöpfe, Söckchen, Röckchen und Kulleraugen hinter einer Herzchenbrille, nicht zu vergessen der Lolli, der sich zwischen die glänzenden Lippen schiebt – So sieht sie aus! Lolita! Das Mädchen, das dem guten alten Humbert Humbert Kopf und Kragen kostet! Lolita, die Liebe seines Lebens, das Feuer seiner Lenden!
Als Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ in den prüden fünfziger Jahren erschein, provozierte er einen Aufschrei, eine Armada an entrüsteten Kritiken. Humbert Humbert, ein Mann in den besten Jahren, verfällt den Reizen des zwölfjährigen Mädchens Dolores, genannt Lolita. Er heiratet die Mutter, um in der Nähe des Kindes zu sein. Als die Mutter verunglückt, beginnt ein Roadmovie, an dessen Ende Humbert Humbert wegen Mordes im Gefängnis landet und Lolita bei der Geburt ihres Kindes stirbt.
Herzschmerz oder Skandal?
Das klingt eher nach einer Herzschmerz-Geschichte als nach einem Skandalroman, dem man Pädophilie und Pornographie vorgeworfen hat, obwohl es keine einzige explizite Szene gibt. Tatsache aber ist, dass Nabokov die Pest an den Hals gewünscht und in typischer Doppelmoral der Roman zugleich die Bestsellerliste der Vereinigten Staaten anführte. Schnell entwickelte sich Lolita zu einem weltweiten Phänomen, gewann eine Eigendynamik, die mit der Vielschichtigkeit des Romans kaum mehr etwas zu tun hatte. Von den Fragen nach der Vereinbarkeit von Sex und Liebe, Projektion und Wirklichkeit, Verführung und Missbrauch blieb nur das Bild eines frühreifen Mädchens. Lolita geistert seither durch die Filmgeschichte, räkelt sich mit Lutschern auf Sofas und wickelt machtlose Männer um ihre zartgliedrigen Finger.
Hamiltons Nymphetten – das Motiv der Kindfrau
Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Lolita-Ästhetik in den siebziger Jahren, als der britische Fotograf David Hamilton diaphane Blondinen in transparente Tuniken hüllte und über Blumenwiesen tanzen ließ. Die Weichzeichner-Fotos verstörten zunächst niemanden. Über den Bildern lag etwas Unwirkliches. Hamiltons Nymphetten schienen einer Traumwelt entsprungen und waren damit unberührbar, rein, losgelöst von männlichem Begehren. Es entwickelte sich eine visuelle Ästhetik der Kindfrau, eines Wesens, das sowohl Merkmale sexueller Reife als auch der Kindheit trägt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch im Umgang mit Sexualität. Einerseits wird der Kindfrau ein Spiel mit sexuellen Reizen zugetraut, andererseits lebt sie von ihrer Unschuld und Unberührtheit. Die Filmgeschichte der siebziger Jahre ist gespickt mit Lolitas in allen Variationen. Im Kult-Tatort „Reifeprüfung“ weckte Nastassja Kinski Begehrlichkeiten in nahezu jedem Sonntagskrimi-Zuschauer. Das Motiv der Schülerin, die sich in den Lehrer verliebt, das Bild der gefährlichen Nymphchen-Geliebten wurde in allen Facetten dekliniert. Selten nimmt es ein gutes Ende mit den Mädchen. Meist enden sie im Grab. Ihre Schöpfer entgehen so dem Drama dabei zusehen zu müssen, wie sich das Unschuldswesen in eine Frau und Mutter verwandelt. Roman Polanski hatte sich mit „Tess of the d’Urbervilles“ von Thomas Hardy ein besonders bitteres Schicksal auserwählt. Tess wird nicht nur die Unschuld geraubt. Nach einem elenden Leben und dem Verlust ihres Kindes verkauft sie sich an ihren Missetäter und tötet ihn schließlich. Sie selbst wird wegen Mordes exekutiert. Kein Unschuldswesen, keine Kindfrau darf in Literatur und Film überleben, ein Leben als Frau und Mutter leben. Lolita ist nur eine kurze Lebenszeit vergönnt.
Sexuelle Freiheit und Recht auf Kindheit
Der poetischen Existenz entrissen wurden die Kindfrauen erst durch die Verfechter der sexuellen Freiheit in den späten siebziger Jahren. Hamiltons Softporno-Filmchen und Nymphetten-Bildwelten erschienen plötzlich in einem anderen Licht. Der Ruf nach sexueller Freiheit auch für Kinder wurde laut. Der Wortführer der Bewegung Gunther Amendt sagte 1980 in einem Interview mit Alice Schwarzer: „Ist es nicht besser, wenn ein total isolierter Junge oder ein isoliertes Mädchen, das emotional verarmt und verelendet und vom leiblichen Vater oder sogar von der Mutter (auch das gibt es) geprügelt wird, wenn ein solches Kind stattdessen einen Erwachsenen findet, der liebevoll zärtlich zu ihm ist, es fördert.“
Der Ungeheuerlichkeit dieser Aussage schien sich Amendt nicht einmal bewusst gewesen zu sein. Feministinnen wurden zuerst hellhörig. Sollte hier wieder einmal das weibliche Geschlecht auf dem Altar männlicher Politik geopfert werden? Wurde männliche Begierde, das Verlangen nach der Kindfrau verbrämt mit dem Begriff der Freiheit?
Lolita als Gegenfigur zur emanzipierten Frau
Sich mit dem Gedanken zu begnügen, dass sich über Geschmack nicht streiten lässt, der eine eben Blondinen, der andere Schneewittchen bevorzugt, griffe entschieden zu kurz. Die Faszination der Lolita-Figur wurzelt nicht nur in schmalen Hüften, knospenden Brüsten und Fohlenbeinen. Mit den äußeren Merkmalen gehen auch Charaktereigenschaften einher. Lolita ist ein Wesen auf der Schwelle zum Frausein, dem ein naives sexuelles Empfinden zugeschrieben wird. Ein Mann, dessen Blick sich auf Lolita richtet, besitzt die Macht, die keimende Sexualität zu dominieren. Er erschafft sich ein Objekt der Begierde und formt es ganz nach seinem Gusto. Zugleich rechtfertigt er sein Handeln mit dem Argument, die Kindfrau sei von Natur aus eine Verführerin, deren Magie er sich nicht entziehen könne. Kapriziert sich ein Mann auf eine Kindfrau, schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe: Er entledigt sich seiner sexuellen Eigenverantwortung, da er unweigerlich dem unentrinnbaren Charme einer Lolita verfallen muss. Zugleich löst sich die Geschlechterfrage im Nichts auf: Statt sich mit den Charakterzügen und Ansprüchen einer selbständigen Frau auseinandersetzen zu müssen, genießt der Mann ein Wesen, das noch unverdorben ist von Freigeistigkeit und eigenen Bedürfnissen …
Der gesamte Artikel ist in Séparée No.12 nachzulesen. Dort haben wir außerdem ein Interview mit der Autorin geführt, deren erster Roman „Satans Spielfeld“ zum gleichen Thema kürzlich erschienen ist.
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