Die Konzerne verfolgen alle die gleiche Marketingstrategie – sie erklären weibliche Unlust einfach zur Krankheit.
Text: Irene Habich
Foto: © Creativa – fotolia.com
Endlich wieder können: Die Potenzpille Viagra befreite Millionen Männer von ihren Sorgen um Standhaftigkeit. Und wurde für den Hersteller Pfizer zum Milliarden-Geschäft. Den gleichen Erfolg versprechen sich die Pharmakonzerne von der Viagra für sie.
Frauen haben zwar keine Erektionsschwierigkeiten, dafür aber viel zu selten Lust, so die Idee dahinter. Und nun forschen Medikamentenhersteller weltweit an Rezepturen, die das Verlangen von Frauen nach Sex steigern sollen. Was sich immer deutlicher zeigt: Die weibliche Begierde künstlich zu wecken ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Doch die Hoffnung auf das ganz große Geschäft beflügelt die Phantasie der Firmen immer wieder aufs Neue.
Der erste Versuch bestand darin, das Original Viagra einfach bei ihr auszuprobieren. Hersteller Pfizer testete sein Produkt damals an über 3000 Frauen, aber ohne Erfolg. Viagra sorgt dafür, dass der Intimbereich besser durchblutet wird. Männliche Erektionstörungen werden dadurch behoben und auch den Frauen schoss das Blut in den Schoß, nachdem sie die blauen Pillen schluckten. Nur mehr Lust auf Sex bekamen sie nicht.
Pfizer gab auf. Doch die Suche nach einer Lustpille für Sie fing damals erst an und ist bis heute in vollem Gange. Kaum ist wieder ein Wirkstoff in der Entwicklung gefloppt, wird schon der nächste vermeintliche Durchbruch gefeiert. Die Konzerne verfolgen alle die gleiche Marketingstrategie – sie erklären weibliche Unlust schlichtweg zur Krankheit. Und im Grunde müssen sie das sogar. Sie forschen nämlich mit Substanzen, die der Verschreibungspflicht unterliegen. Ein Arzt müsste die Diagnose stellen, um sie an Patientinnen abgeben zu können. Also bemühen die Hersteller sich um die Zulassung zur Behandlung der Hypoactive Sexual Desire Disorder (HSDD): einer weiblichen Sexualstörung, die mit Lustlosigkeit einhergeht.
Dass HSDD überhaupt eine Krankheit sein soll, ist zwar umstritten. Schließlich ist die Diagnose genauso dehnbar wie die Antwort auf die Frage, wann jemand „zu wenig Lust auf Sex“ hat. Aber die Pharmaindustrie trägt ihren Teil dazu bei, den Absatzmarkt zu vergrößern.
So auch im Fall von Flibanserin, der nächsten großen Hoffnung der Industrie nach Viagra. Der Konzern Boehringer Ingelheim wollte ursprünglich Depressionen mit Flibanserin behandeln. Als Antidepressivum war der Wirkstoff dann aber ungeeignet. Dafür zeigte sich etwas anderes: Während Antidepressiva den Sexualtrieb sonst eher dämpfen, berichteten Frauen diesmal, Flibanserin würde die Libido steigern. Es sollte die neue Lustpille werden.
Noch bevor Flibanserin in den Regalen stand, ließ Boehringer-Ingelheim damals einen „Schnelltest“ entwickeln, um Ärzten die Diagnose der HSDD zu erleichtern. Frauen sollten auf einem Kärtchen vier Frage beantworten, die in etwa so lauteten: Hatten Sie in der Vergangenheit ein gesundes Verlangen nach Sex? Hat es in der letzten Zeit abgenommen? Macht Ihnen das Sorgen und würden Sie Ihr Verlangen gern wieder steigern? Zusätzlich sollten Frauen angeben, ob sie ihren Partner, Stress, Schmerzen oder andere Faktoren für den Mangel an Begierde verantwortlich machten. Falls ja, war das allerdings kein Ausschlusskriterium für eine HSDD-Diagnose.
Es wäre mit Sicherheit ein Leichtes gewesen, Millionen von Frauen auf diese Weise eine behandlungswürdige sexuelle Störung anzudichten. Doch Flibanserin schaffte es ohnehin nicht auf den Markt. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA verweigerte 2010 die Zulassung: Zu gering sei der Nutzen im Vergleich zu Risiken und Nebenwirkungen des Medikaments. Ein anderer Hersteller erwarb die Forschungsrechte und legte der FDA zu Beginn dieses Jahres neue Studienreihen vor. Und nach wie vor war die Behörde nicht überzeugt.
Flibanserin zeigte nicht nur, auf welche Vermarktungsstrategien die Konzerne bei der Lustpille setzen. Es ist auch ein Paradebeispiel dafür, wie ein solches Mittel nach dem anderen scheitert. So wollte als nächster der Hersteller Palatin ein Nasenspray mit dem Wirkstoff Bremelatonid auf den Markt bringen. Eine Substanz, die eigentlich als Zusatz zu Sonnenlotionen den Bräunungsfaktor erhöhen sollte. In klinischen Tests sollen Probanden plötzlich mehr Lust empfunden haben. Nun wollte man Erektionsstörungen beim Mann und mangelnden sexuellen Antrieb bei Frauen gleichermaßen damit behandeln. Doch Testpersonen wurde übel und sie erbrachen sich, wenn sie das Spray nutzten. Nun hofft man, dass der Wirkstoff besser vertragen wird, wenn Frauen ihn sich unter die Haut spritzen.
Egal, ob die Konzerne an eine einfache Lösung zur Behandlung weiblicher Unlust glauben oder diese nur gerne vermarkten wollen – es wird sie vermutlich nicht geben, sagt Sexualtherapeutin Beatrice Wagner. Zu ihr kommen viele Paare, um über Flauten im Bett zu sprechen. Häufig sind es die Männer, die nach Mittelchen für ihre Partnerin fragen, wenn die keine Lust auf Sex hat.
„Aber ein Medikament würde in den wenigsten Fällen helfen: Schließlich steckt nur selten eine organische Ursache dahinter. Die weibliche Luststörung ist keine Krankheit, sondern ein Symptom“, sagt Wagner. Und Gründe dafür gibt es viele. Wagners Erfahrung: Zwischen Job, Familie und Haushalt müssen Frauen so viele Anforderungen meistern, dass ihnen dadurch das Verlangen nach Sex vergeht. Es ist nicht so, dass er ihnen grundsätzlich nicht mehr gefällt – sie haben nur schlichtweg nicht den Kopf dafür frei. „Überlastung und Stress sind die Lustkiller Nummer eins“, sagt die Sexualtherapeutin. „Wenn man das dann als Krankheit darstellt und von den Frauen verlangt Medikamente zu nehmen, setzt sie das nur noch mehr unter Druck.“ Stattdessen können ganz einfache, praktische Lösungen den Betroffenen helfen. So entschied sich ein Ehepaar nach der Gesprächstherapie, einmal pro Woche den Babysitter zu buchen und Zeit für Zweisamkeit einzuplanen. Außerdem stellten sie jemanden für die Buchhaltung des Familienunternehmens ein – und waren so beide beruflich entlastet. Die Lust kam zurück.
In anderen Fällen bekommen Frauen zu Hause einfach nicht den Sex, den sie brauchen. „Viele haben nicht gelernt, über ihre Wünsche im Bett zu reden oder haben einen Partner, der nicht genug darauf eingeht. Sie bleiben beim Geschlechtsverkehr ständig unbefriedigt und verzichten irgendwann lieber darauf,“ sagt Wagner. Oder es sind einfach Paarprobleme, die das Verlangen töten. „Für Frauen muss die Beziehung stimmen, damit sie den Sex genießen können.“ Und einigen ist die Freude an Sexualität auch dadurch verleidet, dass sie in ihrer Kindheit missbraucht wurden.
Klar ist: Hilfe aus dem Labor gibt es in all diesen Fällen nicht. Nur wenn sonst alles stimmt und eine Patientin trotzdem unter Lustlosigkeit leidet sind medizinische Gründe wahrscheinlich und Wagner überweist die Frauen zum Arzt.
Rein körperliche Ursachen für mangelndes Begehren sind selten, aber es gibt sie. Ein Arzt kann dann zum Beispiel klären, ob ein Medikament das Verlangen schwächt: Etwa die Antibabypille oder Tabletten zur Behandlung von Depressionen. Auch eine Schilddrüsenerkrankung kann den Hormonstoffwechsel des Körpers durcheinanderbringen, genau wie die Wechseljahre. Und manchmal vermuten Ärzte den Mangel an einem ganz bestimmten Stoff dahinter: Testosteron. Das männliche Sexualhormon kommt auch im weiblichen Körper vor. Und es soll bei Frauen wie bei Männern die Lust auf Sex steigern.
Werden die Eierstöcke entfernt, sinkt der Testosteronspiegel im Körper besonders stark ab. Für solche Frauen wurde das Hormonpflaster Intrinsa entwickelt. In Versuchsreihen steigerte das Testosteron die Lust aber kaum. Dafür bekamen Probandinnen Akne, eine tiefere Stimme und sprießende Körperbehaarung. Die europäische Arzneimittelbehörde entzog Intrinsa 2010 die Zulassung. Und Libigel, ein weiteres Testosteron-Präparat, schnitt in Tests schlechter ab als ein Placebo, ein wirkstofffreies Scheinmedikament.
Spezialistin für weibliche Hormonstörungen ist die Gynäkologin Anneliese Schwenkhagen. „Der Anteil der Frauen, die klagen, ist hoch“, sagt sie. Etwa zehn Prozent der Frauen würden gelegentlich unter Lustmangel leiden. „Aber eine Wunderpille dagegen wird es nicht geben.“ Denn auch nach ihrer Erfahrung verbergen sich meistens Gründe dahinter, die nicht mit Medikamenten behandelbar sind: Die Mehrfachbelastung der Frauen durch Haushalt, Büro und Familie, die Schwenkhagen den „modernen Mütter-10-Kampf“ nennt. Das Problem, dass zwischen Partnern die Erotik versandet, weil sie sich nur noch als Eltern wahrnehmen. Oder Unwissen über die weibliche Sexualität – bei Frauen und ihren Partnern gleichermaßen. Nach wie vor würden Patientinnen glauben, sie seien sexuell gestört, wenn sie allein durch Geschlechtsverkehr keinen Orgasmus bekommen. „Dabei müssen die meisten Frauen klitoral stimuliert werden“, sagt Schwenkhagen.
Schwenkhagen lehnt unterstützende Arzneimittelgaben nicht grundsätzlich ab. So verschreibt sie einigen Frauen Zubereitungen mit niedrig dosiertem Testosteron, auch wenn die Studienlage zwiespältig ist. Sie habe damit Erfolge erzielt. Die Gefahr von Nebenwirkungen müsste aber genauestens abgewogen und Patientinnen darüber aufgeklärt werden. „Insbesondere bei den Langzeitrisiken gibt es noch viele Unklarheiten.“ So werde ein Zusammenhang zwischen Testosterontherapien und bestimmten Krebsformen vermutet. Schwenkhagen hält es für „schlichtweg naiv“ zu glauben, man könne einen universalen Lustmacher im Reagenzglas erzeugen, der noch dazu sicher und gut verträglich sei.
Ungeachtet all dessen stehen die nächsten Lustpillen kurz vor der Marktreife. Lybrido heißt die eine Variante. Wie Viagra soll sie die Durchblutung der Genitalien steigern und Frauen empfänglicher für sexuelle Reize machen. Lybridos heißt die andere – und enthält Buspiron, ein Mittel, das den Serotonin-Stoffwechsel des Gehirns beeinflusst – ähnlich wie Flibanserin. Buspiron wurde ursprünglich in der Therapie von Angststörungen eingesetzt und soll sexuell uninteressierte Frauen enthemmen. Beide Präparate sind von einer testosteronhaltigen Glasur mit Pfefferminzgeschmack überzogen. Frauen müssen diese ablutschen, bevor sie die Mittelchen schlucken. Hinter Lybrido und Lybridos steckt ein Team um den niederländischen Forscher Adriaan Tuiten. Und der hat seine ganz eigene Philosophie dazu, warum die Welt eine weibliche Lustpille braucht. Es gefährde die Monogamie, wenn die Triebe der Frauen einschlafen, so Tuiten. Denn die würden nach einigen Jahren Beziehung stets die Lust am immer gleichen Mann verlieren – und Sehnsucht nach neuen Partnern entwickeln. Ihn selbst habe das Scheitern einer Beziehung dazu motiviert, an einer Sexpille für Sie zu forschen. Dass Tuitens Pfefferminzpillen den Markt erobern werden, ist unwahrscheinlich, aber nicht auszuschließen.
Klar ist: Keine Frau der Welt sollte sich zur sexuellen Begierde verpflichten lassen. Ob ihr Verlangen groß genug ist, bestimmt letztendlich jede für sich allein, sagt auch Anneliese Schwenkhagen. „Und wenn jemand sich gut damit fühlt, nur ab und zu Sex zu haben, dann ist das völlig in Ordnung.“
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