Ein erster Dezember

Eine unerwartete Begegnung in der Vorweihnachtszeit. von Ninon Nannen (Foto: Erika Lust)

Ein Samstagvormittag Anfang Dezember. Große Tüten und schwere Pakete mit ersten oder auch letzten Weihnachtsgeschenken werden vorbei getragen. Rote Wangen eilen hektisch ihren weißen, kalten Atemwolken hinterher. Dazwischen, nicht recht zu all dem geschäftigen Treiben passend, im starken Kontrast zu ihrer Umgebung so wartend inmitten all der Bewegung steht hochaufgerichtet eine Frau vor der Post, geht gelegentlich ein, zwei, auch drei Schritte zur Seite dann wieder zurück zu ihrer Ausgangsposition vor dem Briefmarkenautomaten. Sie hebt den Kopf, schaut nach links und recht, hält Ausschau. Nach ihm, den sie nicht erkennen wird.

Sie trägt einen hellbraunen Mantel – kamelfarben hatte sie gesagt, die Hände in schwarzen Lederhandschuhen halb in den Taschen vergraben, auf dem Kopf eine schwarze Mütze, unter der braune Haarsträhnen herausfallen, um dann sogleich wieder im hohen Kragen ihres Mantels zu verschwinden. Unter ihrem Mantel kommen Beine in grauen Strümpfen und schwarzen Stiefelletten zum Vorschein.

Er geht an ihr vorbei, riskiert einen ersten gefälligen Blick, aber sie sieht ihn nicht, kennt ihn nicht. Er hebt Geld ab, zieht einen Kontoauszug, um sich ihr dann von hinten nähern zu können. Seine Hände, ebenfalls in Handschuhen, umfassen plötzlich ihren Hals, bedecken ihre Augen, biegen in dieser Bewegung ihren ganzen Körper leicht zu sich nach hinten. Er bemerkt, wie sie maximal den Bruchteil einer Sekunde zögert, überrascht zusammenzuckt, sich dann aber sogleich auf die Berührung dieser fremden, behandschuhten Hände einlässt, sich nicht hinauswindet sondern sie annimmt ebenso wie sie in dieser leicht zurückgebogenen Position ihres Körpers Gefallen zu finden scheint, beinahe so als schmiege sie sich an ihn, den Unbekannten. So verharren sie, keiner weiß wie lange vermutlich aber nur wenige Sekunden, in dieser ersten Begrüßung, in dieser ersten Berührung, noch bevor sie sich überhaupt jemals in die Augen geblickt haben, während um sie herum Menschen vorbeieilen, Türen auf und zu schlagen, Adventskränze beim Vorübertragen ihr ersten Nadeln verlieren. Der Duft nach Glühwein und Zuckerwatte weht vom Weihnachtsmarkt herüber, aber er riecht es nicht. Er riecht sie. Als sie sich endlich aus seinem Griff freimacht und zu ihm umdreht, blicken ihm ein paar grüne Augen – oder sind sie braun? Er kann es nicht sehen – unter langen schwarzen Wimpern aus einem winterblassen Gesicht neugierig entgegen. Ihre auf der hellen Haut herausstechenden orangeroten Lippen lächeln leicht schräg, bevor sie sich zu einem Hallo teilen. (Beim nächsten oder übernächsten Treffen wird er ihr ein Taschentuch hinhalten und ihr anordnen, ihren Mund sauber zu wischen. Er wird ihr erklären, dass sie beim ihm keinen Lippenstift zu tragen habe.)

Die könnte mir gefallen, denkt er spontan.

Er führt sie an blinkenden Feuerwehrautos und rosa Einhörnern, die sich zu Oh du fröhliche drehen, vorbei, biegt um eine Ecke und öffnet ihr schließlich die Tür zu einem Café, das voll besetzt ist mit Samstagseinkäufern. Unterwegs blicken sie sich verstohlen von der Seite an, sie schräg nach oben seinen großen Körper empor, er schräg nach unten. Nahe des Eingangs finden sie einen noch freien Tisch und setzen sich. Seine Haare sind noch ein wenig feucht, locken sich leicht im Nacken.

– Ich war gerade laufen. Und muss zum Friseur, erklärt er ungefragt.

Hunger? Schon gefrühstückt? fragt er dann.

Sie blickt sich nervös um, schüttelt dann den Kopf. Sie habe noch nicht gefrühstückt, habe aber auch nicht wirklich Hunger. Sie bestellt Kaffee und Wasser, er die Frühstückskarte.

– Wir teilen uns eins, entscheidet er. Salzig oder süß?

Sie blickt unschlüssig, unverständig, so als rede er eine andere Sprache.

– Das wird die einzige Entscheidung bleiben, die du noch eigenständig treffen wirst, wenn wir zusammen sind. Also los.

Überraschend bestimmt antwortet sie sofort: Salzig.

Während des Frühstücks, bei dem sie trotz ihres Mangels an Hunger erstaunlich schnell ein halbes Lachsbrötchen verschlingt, bevor sie dann mit den restlichen Krümeln auf ihrem Teller spielt, erzählt er ihr, oder vielmehr versucht er ihr von sich zu erzählen, von seiner Liebe zu Tieren, zu Afrika, zu Frauen in High Heels, versucht etwas über sie zu erfahren. Aber all das, was er normalerweise Frauen beim ersten Treffen erzählt, was normalerweise das Eis bricht, interessant oder auch unterhaltsam wirkt, scheint an ihr abzuprallen, nicht bis zu ihr vorzudringen, verläuft sich ins Leere, dorthin, wo auch ihre Augen sich während seiner Ausführungen verloren haben. Nur bei den High Heels wird sie plötzlich wach, schaut zu ihren Füßen herunter, die in gut acht Zentimetern stecken. (Später wird er ihr erklären, dass sie ruhig noch ein wenig höher sein können, und noch schmaler im Absatz.) Er beginnt ihr Fragen zu stellen:

– Ist L. dein richtiger Name?

– Hier und jetzt in diesem Kontext – ja.

Pause.

– Was machst du beruflich?

– Ist das relevant?

– Ja, es gibt mir ein näheres Bild von dir.

– Mach dir dein Bild, so wie du es möchtest. Suche dir etwas aus. Gib mir einen Beruf, gib mir einen Namen, der dir gefällt.

Pause.

– Hast du Kinder?

– Ja. Wieso?

– Nun, ich interessiere mich eben für meine Mitmenschen.

Pause.

Erneut versucht er es mit einer Anekdote aus seiner Kindheit, aus seiner Gegenwart. Aber sie starrt an ihm vorbei, oder vielmehr auf die Narbe, die sich aus seinem hochgekrempelten Hemdsärmel heraus seinen Unterarm entlang windet. Plötzlich unterbricht sie ihn mitten im Satz:

– Können wir nicht mal über das sprechen, warum wir hier sind?

Er schaut sie einen Moment an, zuckt leicht die Achseln: nun gut, wenn sie den Umweg über ein wenig Konversation nicht möchte, er kann auch anders. Und das tut er dann auch. Ihre Augen verlassen die Leere in der Ferne, das Grün leuchtet, sie fängt an bei seinen Worten unruhig auf dem Stuhl hin und her zu rutschen, bis ganz vorn an die Stuhlkante, ihren Rücken durchgedrückt, wie ein Pfeil gespannt, sie trommelt mit den Fingern auf dem Tisch, lutscht an ihrem Kaffeelöffel. Ihr Atem geht schneller. Er beginnt ihr seine Vorlieben zu erzählen, fragt sie ihre ab.

– Gefällt dir das?

– Ja.

Oder:

– Kannst du dir das vorstellen?

– Ja. Vielleicht.

Er spricht laut, so laut, dass sie befürchtet, an den Nachbartischen könne man sie hören. Es ist ihr sichtlich unangenehm, und sie sieht sich verstohlen um, zuckt zusammen, als die Kellnerin kommt, und er dennoch keine Anstalten macht seine Stimme zu senken. Ihn scheint das zu amüsieren.

Die meiste Zeit antwortet sie mit ja. Fast flüsternd, so als wolle sie für seine Lautstärke kompensieren. Er kann es ihren Augen entnehmen, dass sie dieses Ja auch so meint. Ihr Blick ist glasig geworden, entrückt.

– Wirst du feucht? fragt er. Er lächelt breit, freut sich über das, was seine Worte bei ihr zu bewirken scheinen.

Sie wisse es nicht, behauptet sie.

– Dann geh auf die Toilette und sieh nach.

Sie zögert einen Moment, aber sein Blick bedeutet ihr, dass er es ernst meint. Also steht sie auf und geht unter seinen ihr folgenden Augen Richtung Klo. Sie weiß, dass sie es ist, aber sie geht trotzdem, sie sieht trotzdem nach, fühlt die Nässe zwischen ihren Beinen. Dann zieht sie ihren Lippenstift nach und geht zum Tisch zurück.

– Und?

– Ja.

Er wirkt zufrieden.

– Eines Tages, sagt er, werde ich dir befehlen, zu einem der Männer hier – er deutet auf einen benachbarten Tisch – zu gehen und zu fragen, ob du ihm einen blasen darfst. Und dann werde ich ihn fragen, ob du gut warst. Und wenn nicht, werde ich dich bestrafen. Du hast dir Mühe zu geben.

Er zögert kurz.

– Das erste Mal werde ich aber mit dabei sein, um zu sehen, dass du mich auch nicht blamierst.

Ihr Atem wird flacher, hörbarer. Er bemerkt es und fährt fort:

– Oder du wirst dich vor mich und einen anderen Mann setzen, ganz vorne auf die Stuhlkante (- unwillkürlich rückt sie noch weiter vor auf ihrem Stuhl dort im Café -), zwei weitere Stühle rechts und links zu deiner Seite platziert, auf die du deine Füße abstellst, so dass deine Beine weit gespreizt sind, du weit geöffnet bist, und wir deine nasse Fotze sehen können (- unwillkürlich spreizt sie ihre Beine unter dem Tisch dort im Café -) und dann wirst du es dir selber machen vor unseren Augen.

– Oh, sagt sie. Darin bin ich nicht gut. Es mir vor anderen selber machen, meine ich.

– Dann wirst du dich bemühen müssen. Er lacht und fügt hinzu: Sonst tust du eben nur so. Oder glaubst du etwa, es interessiert tatsächlich irgendwen, ob du wirklich kommst?

– Können wir nicht zu dir gehen? fragt sie plötzlich. (Dieses wird das letzte Treffen sein, bei dem sie ihn duzt. Später wird sie ihn nur noch mit Mein Herr oder SIR anreden und siezen müssen.)

Er zögert kurz, schüttelt dann verneinend den Kopf. Sie antwortet nicht darauf, aber sie scheint enttäuscht. Er habe zwei Prinzipien, sagt er: er ficke nie beim ersten Mal und er lecke nicht. (Sehr viel später wird er über eine Ausnahme dieses zweiten Prinzips anfangen nachzudenken.) Sie zuckt nur leicht mit den Achseln dazu.

– Ich möchte testen, wie gut du küssen kannst, sagt er.

Sie blickt ihn entsetzt an.

– Nicht hier.

– Nun, dann gehen wir gleich mal gemeinsam zur Toilette.

Er grinst. Dann nimmt er ihre Haare, die ihr lose über die Schultern fallen, am Oberkopf zusammen.

– Mal sehen, wie du mit Zopf aussiehst.

Sein Blick prüft sie, dann nickt er zustimmend.

– Triffst du dich noch mit anderen Männern? Oder bin ich der erste, mit dem du dich triffst?

– Nein. Es gab da noch zwei andere, aber ich werde sie nicht wieder treffen.

– Wieso?

– Weil es keinen Anlass dazu gibt.

– Dein Mann und du, fickt ihr noch?

-Ja.

Pause.

– Und? Ist es gut?

Sie lächelt.

– Ja.

– Kommst du?

Sie lächelt erneut.

– Ja.

Eine längere Pause, während der er sie forschend ansieht. Dann sagt er bestimmt:

– Wenn du dich mit mir triffst, dann nur mit mir, du fickst maximal noch deinen Mann. Hast du das verstanden?

Sie nickt.

– Gut. Dann gehen wir mal.

Er erhebt sich. Sie folgt ihm, geht ein zweites Mal hinunter zur Toilette. Sie findet sich ziemlich plötzlich in einer Kabine des Herrenklos wieder, Rücken an der Wand, Tür abgeschlossen, er steht vor ihr und befiehlt ihr, ihn zu küssen. Ein erster Kuss, ein fremder Mund, ein fremder Geschmack, fremde Lippen. Nach einer Weile tritt er einen Schritt zurück, begutachte sie und macht wortlos mit einem Finger eine minimale, drehende Bewegung. Sie versteht sofort, drückt ihr Gesicht an die kalten Kacheln, streckt ihm ihren Hintern entgegen. Eine Hand zieht ihre Strumpfhose und ihren Slip hinunter, dann erforschen seine Hände diesen unbekannten Körper, erforschen ihre Rundungen und Wölbungen, ertasten das Weiche und das Harte ihres Körpers, umschließen ihre kleinen Brüste, fühlen ihr Herz darunter laut und kräftig und rasend schnell gegen die Rippen schlagen, ziehen an ihren Brustwarzen, schieben sich zwischen ihre Schenkel, bewegen sich dort.

Es riecht nach Männerurin, scharf und beißend. Aber er riecht es nicht. Er riecht sie. Sein Gesicht an ihrem Nacken, in ihren Haaren. Ihr Körper bewegt sich mit seinem Rhythmus.

– Was ist das da in deiner Fotze? fragt er verwundert.

– Ein Tampon? fragt sie leicht ironisch zurück.

– Ah. Ok.

Türen werden aufgestoßen, Männerstimmen sind hörbar, die Türklinke ihrer Kabine wird heruntergedrückt. Dann lachende Kommentare, die sie nicht wirklich versteht, obwohl sie den Atem anhält.

Seine Finger bewegen sich mittlerweile in Richtung ihres Anus, umkreisen ihn, kommen näher.

– Darf ich? fragt er.

Sie nickt und spürt, wie seine Finger auch in dieses Loch von ihr eindringen und dort in ihr arbeiten. Sie versucht, so leise wie möglich zu atmen, beißt sich auf die Lippen.

Schließlich zieht er seine Finger zurück. Sie dreht sich nach wie vor nicht zu ihm um. Er nimmt ein Stück Klopapier wischt sich erst sehr sorgsam die Finger ab, dann mit einem weiteren sehr sorgsam ihren Hintern. Sie zuckt ein wenig zusammen. Vor Scham? Er lässt sie dort stehen immer noch mit dem Gesicht gegen die Wand, mit heruntergelassenem Slip, geht kurz ans Waschbecken und wäscht sich die Hände. Als er wiederkommt, zieht er hoch, was er herunter geschoben hat, dreht sie zu sich um und befiehlt:

– Küss mich leidenschaftlich.

Sie küssen sich, ihre nicht mehr ganz so fremden Münder essen sich, ihr Lippenstift verschmiert, verschwindet.

Als sie wieder oben sind, erst sie, dann er, als sie wieder an ihrem Tisch Platz nehmen zwischen all den Kaffee trinkenden und essenden Gästen, die noch genauso wie vorher da sitzen, unverändert, unwissend dessen, was sich gerade eben dort unter ihnen auf der Toilette zugetragen hat, nichts ahnend von den Fingern, den Zungen, den Händen, dem Herzschlag, dem Klopapier, sagt er:

– Wenn du zu mir kommst, wirst du keine Unterwäsche tragen. Nie. Weder Slip noch BH. Keine Hose, dafür Rock oder Kleid. Du hast zugänglich zu sein. Deine Haare wirst du zusammenbinden. OK?

– Ja.

– Und du hast sauber zu sein.

-Ja, sicher, sagt sie.

– Ich meine anal sauber.

– Oh. Sie sieht ihn fragend an.

– Anal sauber. Hast du das verstanden?

– Du meinst…?

– Ja. Kriegst du das hin?

– Ja. Ja, das kriege ich hin.

– Gut.

Er winkt der Bedienung und bestellt die Rechnung.

Auf der Straße, in der plötzlichen Kälte auf ihrer noch warmen Haut, mitten unter all den eilenden und weniger eilenden Menschen, umschließt er erneut ihren Nacken mit seiner Hand und lacht. Sie schüttelt ihn ab.

– Du gefällst mir, sagt er. Ich muss eine Frau lesen lernen und ich glaube, ich kann dich lesen. Du brauchst die Augen verbunden, was meinst du? Ja, ich glaube, das brauchst du, um dich zu entspannen, stimmt’s?

Sie lächelt leicht ironisch und zuckt die Achseln, so als habe sie es nicht nötig, darauf etwas zu erwidern.

– Du wirst mir einen Bericht schreiben, trägt er ihr auf. Über das heute. Wie du das alles empfunden hast. Bis morgen Abend.

– Und du? Schreibst du mir auch? fragt sie ihn.

Diesmal ist es er, der nicht antwortet. Aber er wird ihr schreiben.

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