Raureif auf der Zunge

Es war nur dieser kleine Moment, in dem sich per Zufall zwei Fingerspitzen berühren und es macht Klick. Es klingt etwas an in dir, dass du nicht kanntest. Es ist verrückt, aber in dieser Zehntelsekunde öffnet sich eine Pforte in eine andere Dimension. Ein Zeitsprung, verstehst du? von Ludwig Schumann

Es war nur dieser kleine Moment, in dem sich per Zufall zwei Fingerspitzen berühren und es macht Klick. Es klingt etwas an in dir, dass du nicht kanntest. Es ist verrückt, aber in dieser Zehntelsekunde öffnet sich eine Pforte in eine andere Dimension. Ein Zeitsprung, verstehst du? Gott, da stehe ich morgens um sechs vor meinem Spiegelbild und unterhalte mich mit ihm. Total durchgeknallt. Ein Zeitsprung. Für eine Zehntelsekunde outer limits. Und du bist erschrocken. Es erschrickt dich. Die zweite Berührung, Haut auf Haut von Wange zu Wange, ebenso flüchtig, die hat die Tür geöffnet.

Du bist verwirrt. Du gehst in dein Zimmer, hockst dich vor deinen Computer und schreibst irgend etwas. Schreibst Worte wie du dich rasierst. Ladystyle. Der Kerl ist ja immer noch im Spiegelbild. Wie der sich mit seinem altmodischen Schaber in den Barthaaren herumkratzt. Der guckt mich ganz ungläubig an. Ich gucke mich an. Eine andere Erklärung gibt es nicht, dass ich abends zum Telefon griff. Und sie, diese Stimme am anderen Ende. Ganz nüchtern, ja, sagt sie, dann komm doch. Aber irgendetwas zittert in der Stimme. Ihre Stimme zittert auf der zweiten Spur. Die dritte schreit. Sie ist nicht einmal verwundert. Vielleicht beängstigt. Sie klingt, als antworte sie bereits jenseits der Tür? Kauf noch ein, sagt sie. Eine Flasche Sekt vielleicht, sagt sie. Es ist doch ihre Stimme? Und ich mache mich auf den Weg und kaufe bei Reichelt ein. Ich habe noch nie bei Reichelt eingekauft, denke ich. Reichelt ist mir viel zu teuer. Aber ich gehe. Der Gang durch die Regale, die Vorfreude, ich möchte sie ausdehnen, bis zum Ladenschluss. Ich möchte mich einschließen lassen. Morgen anrufen: Tut mir leid, aber ich habe den Abend bei Reichelt verbracht. Doch dann wäre die Zeittür wieder verschlossen gewesen. Die ist nur jetzt auf, diesen Moment, denke ich und haste mit der Tüte unter dem Arm auf den Parkplatz, suche den Schlüssel. Wo ist dieser verdammte Autoschlüssel? Ich steige ein, die Räder drehen durch. Gott, denke ich, ich muss mich bremsen. Ich habe diesen Monat schon drei Strafzettel kassiert. Jetzt noch ein roter Blitz aus dem Dunkel, die Zeittür schließt sich.

Der Fahrstuhl rattert in einem Tempo, als wollte er im vorigen Jahrhundert ankommen. Sie öffnet. Gott, denke ich noch, was hat sie da für einen Kittel aus dem Schrank geholt. Will sie mich erschrecken? Sie sieht aus, als käme ich zum Großreinemachen. Habe ich mir das Zittern in ihrer Stimme eingebildet? Aber dann spüre ich die Wärme der duschfeuchten Haut und ich weiß, ich bin angekommen.

Sie redet wie ein Wasserfall, während sie das Abendbrot bereitet. Wieso macht sie das, frage ich mich. Wieso legt sie, verdammt noch mal, so viel Wert auf dieses Abendbrot. Sie redet, während sie den Tisch deckt. Sie redet, während ich den Sekt entkorke, leise natürlich. Sie redet, während sich in mir die Seele biegt und der Schwanz wie ein Pfeil auf dem gespannten Bogen liegt. Und ich höre zu. Nicke. Ermuntere sie, weiterzureden. Sie kleidet die Worte in die Sekunden, mit denen dieser Abend verfliegt. Und ich weiß, ich weiß nicht, woher – aber ich weiß, dass nach Mitternacht der Zauber verflogen ist. In Minutenlängen fließen ihr die Sätze über die Zunge, als hätte sie ein unerschöpfliches Reservoir davon. Der Raum ist wie eine Badewanne voll Wörtern und sie steigen und steigen, dass ich das Gefühl habe, dass sie mich gleich ertränken. Bis sie aufsteht, die CD zu wechseln. Und ich aufstehe, die CD zu wechseln. Und wir uns treffen am CD-Player und sie fragt, welche Musik ich jetzt hören möchte. Sade, sage ich. Ich liebe diese Stimme, die wie Rauhreif auf der Zunge perlt. Und ich berühre zufällig ihre Haut, als sie den Kopf in meine Richtung wendet und sehe die große Verwunderung in ihren Augen und es ist sieben Minuten vor zwölf. Und sie erstarrt, als wollte sie das nicht für möglich halten und ich erstarre, weil es doch gar nicht möglich sein kann. Und halte ihren Kopf zwischen den Händen. Die Haut ihrer Wangen blüht an der Haut meiner Hände. Was ist jetzt? fragt sie, als sie auftaucht aus ihrem Blick, was machen wir jetzt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass dieser wiegende Rhythmus und diese Stimme, die singt, durch die Haut dringen. Die Chaiselongue nimmt uns auf. Komm erst einmal bei mir an, sagt sie, als ich auf ihr liege und fieberhaft nach dem Knopf fahnde, der sie anstellen soll. Als wüsste ich nicht längst, dass der Knopf gefunden ist, daß er dort war, wo wir ihn heute morgen, zwischen zwei Berührungen, einstellten. Komm, sagt sie, entspann dich. Sie sagt es, als wäre der Junge auf ihr ein unartiges Kind. Als wäre ich tagsüber auf der Autobahn gefahren, hätte siebenhundert Kilometer am Stück gefahren und bin nun zwar angekommen, aber die Seele, das verfluchte Ding, kommt nicht hinterher. Ich habe es gewusst, sagt sie. Männer, die solange einer Frau zuhören, ohne sie zu unterbrechen, sind einfach nur geil. Sagt sie. Was soll ich ihr widersprechen. Ich wollte das nicht, sagt sie. Mit solchen Sachen macht man Freundschaften kaputt, sagt sie. Ich wollte das vermeiden. Sie hört einfach nicht zu reden auf. Vielleicht konnte ich sie deshalb nicht anstellen, denke ich, weil ich den Knopf zum Abstellen nicht finden kann. Ich habe meine unerotischsten Sachen aus dem Schrank geholt, lacht sie. Und, frage ich, hat es genutzt? Du komm erst einmal bei mir an, wiederholt sie sich und ich merke, wie mir unter ihrer Hand die Spannung aus dem Körper wegfließt. Wie, denke ich, soll ich mit ihr schlafen, wenn sie mir diese Spannung nimmt. Sie diffundiert. Sie hält mich fest. Ich liege auf ihr und spüre, wie ihre Warzen himmelwärts steigen. Gott, denke ich, sie wird steif und ich entspanne mich. Wie soll das gutgehen? Sie nimmt meine Hand und legt sie auf ihre Brust. Sie schält mich aus dem Hemd und kneift mir in die Brustwarzen. Der Angriff kommt unverhofft und es schmerzt. Ihre Hand wandert suchend zwischen meinen Schenkeln. Ich registriere es, habe aber keinen Einfluss mehr. Es ist halb eins. Ich habe um neun Uhr den Termin bei.. Mach deinen Kopf frei, sagt sie. Du steckst voller Zeug, was du bei der Liebe nicht brauchen kannst. Sie weiß, wenn ich nicht bei ihr bin, denke ich. Woher kennt sie mich so genau ohne Worte? Ich genieße es, wenn du leidest, sagt sie. Dabei streicht sie über die linke Brustwarze. Allein die sanfte Berührung reicht, um mir den Schmerz zu vergegenwärtigen. Ich dreh ihr die Warze aus der Hand. Schon drückt sie sie wieder mit Daumen und Zeigefinger, benetzt sie mit Speichel, um sie besser zwirbeln zu können. Gott, ist das ein Schmerz. Du wirst dich daran gewöhnen, sagt sie. Und das wunderbare ist, du wirst morgen an mich denken, wenn sie dir wehtut. Bei jeder Bewegung, immer, wenn das Hemd an deiner Haut reibt, wird sie dir sagen, dass du bei mir warst. Ich glaube es. Ihre Verheißung ist an Schmerz gebunden, also wahr. Sie führt meine Hand auf ihr Vlies. Es ist rasiert. Nur auf dem Venushügel ist noch Grasland. Ich fahre ihr mit der Zunge sanft über die Lippen. Sie öffnen sich, nach dem ersten auch das zweite Paar. Sie stöhnt leise. Ich fahre sanft mit dem Finger über die Lippen und dann wieder mit der Zunge. Sie genießt es. Ich züngele ihr über den Bauch zur Brust. Beiß zu, sagt sie. Ich sauge mich an ihrer Brust fest, umspiele mit der Zunge ihre rechte Brustwarze. Beiß zu, sagt sie wieder. Mehr, sagt sie. Oder hast du Angst, mir weh zu tun? Die habe ich in der Tat. Sie lacht. Komm, sagt sie, mach, beiß endlich zu. Ich will es ja, aber der Widerstand in mir ist zu groß. Hast du Angst, du könntest mir etwas abbeißen, fragt sie. Sie lacht. Gott, sagt sie, du musst noch viel lernen. Ihr reicht mein Finger nicht. Zwei, nein drei will sie haben. Mehr sagt sie, ich brauche mehr. Nimm die Hand. Sie bewegt sich unter meiner Hand, stößt nach vorn, als hätte sie es auf den Arm abgesehen. Sie hat es auf den Arm abgesehen. Ungeduldig ist sie. Weit öffnet sie sich. Weit. Und drängt. Und es öffnen sich Schleusen. Sie bebt. Es ist ein Erdbeben und endlich ergießt sie sich über ihre Chaiselongue. Mach, sagt sie, komm, ich will mehr. Aber, sagt sie schließlich, es ist spät – und du hast noch nichts davon gehabt. Ich verstehe sie nicht. Ich bin bei ihr. Ich streichle über ihr wundervolles Gesäß, über diese Haut, die die Chinesen eine Pfirsichhaut nennen würden.

Ich finde es wundervoll, sage ich, wenn ich bei dir sein kann. Ich bin völlig entspannt. Was? fragt sie, bist du glücklich? Sie schaut mich ungläubig an. Ich bin glücklich, antworte ich ihr. Sie lacht. So ist es gut, sagt sie. So ist es wirklich gut. Weißt du eigentlich, dass du der erste Mann bist, der diese Scheibe von Sade aufgelegt hat? Ich weiß es nicht. Bisher, sagt sie, habe ich dieses Album nur dann aufgelegt, wenn ich einen Mann verführen wollte. Und kein Kerl ist bisher auf die Idee gekommen, das Album aufzulegen. Merkwürdig, sage ich. Sie hat doch Rauhreif auf der Zunge. Das müssen die Kerle doch gemerkt haben? Ihre Stimme ist wie du, sage ich. Und das ist, verdammt nochmal, kein Schmus. Sie nickt. Sie weiß es. Und er weiß es jetzt auch. Das habe ich mit ihm gemeinsam. Komm, sagt sie, halte mich jetzt einfach. Mach nichts. Sie nimmt mein rechtes Bein zwischen ihre Schenkel und zieht sich mit einer Kraft darüber, als wollte sie mir die Haut vom Schenkel schälen.

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