Von Slow bis Soul Sex

Achtsamkeit ist ein Mantra unserer Zeit. Doch was verbringt sich hinter dem Begriff und wie kann man im Alltag und beim Sex Achtsamkeit praktizieren?

Achtsamkeit ist ein Mantra unserer Zeit. Doch was verbringt sich hinter dem Begriff und wie kann man im Alltag und beim Sex Achtsamkeit praktizieren?

 

Text: Aurelia Glück
Foto: bubulina65_pixabay

Achtsam sein heißt: Wir schenken dem Moment unsere volle Aufmerksamkeit ohne zu urteilen. Wie fühlt sich unser Körper an? Welche Gedanken denke ich gerade jetzt? Was fühle ich auf emotionaler Ebene? Wenn wir uns diese Fragen in einem wertungsfreien Raum stellen, ohne irgendetwas verändern zu wollen, praktizieren wir Achtsamkeit und sind vollkommen im Moment. Das Schöne an der Achtsamkeit ist, dass sie durch die Abkehr vom Denken Räume öffnet für Neues. Ist der Autopilot einmal ausgeschaltet, entfaltet sich Weite und vollkommen natürlich entsteht Neugierde auf den nächsten Moment.

Wenn wir achtsam sind, laden wir unser ganzes Sein mit Energie auf. Wir halten die Konzentration auf dem, womit wir gerade beschäftigt sind. Wenn wir das Bad putzen, putzen wir das Bad. Wenn wir essen, nehmen wir den Duft, den Geschmack und die Konsistenz des Essens wirklich wahr und schieben uns nicht einfach etwas in den Mund ohne wahrzunehmen, welche Nahrung wir unserem Körper gerade zuführen. Achtsamkeit wirkt z. B. auch gegen Übergewicht, denn ich kaue jeden Bissen ganz bewusst und stelle mir die Frage: Wie fühlt sich die Kartoffel in meinem Mund an? Wie schmeckt sie? Habe ich Hunger auf eine weitere Kartoffel?

Achtsamkeit macht uns langsamer.

Es ist, als stoppten wir die Lawine unserer unbewussten Alltagstätigkeiten, bevor sie uns aus dem Jetzt schießt. Denn sind wir mal ehrlich, wir haben nur das Jetzt. Wenn wir uns mit Vergangenem beschäftigen, leben wir in unseren Erinnerungen. Denken wir an Morgen, sind wir in einer Sphäre, die noch gar nicht existiert. Sicher, aus der Vergangenheit können wir lernen. Und klar, die Vorsorge für unser Rentenalter ist wichtig. Doch wann können wir die Weichen unserer Zukunft stellen? Jetzt. Im Bett bedeutet das, nicht auf einen Orgasmus hinzusteuern, keinem festgeschriebenen Drehbuch zu folgen, nicht irgendwo sein zu wollen, sondern den Moment mit dem Menschen an unserer Seite wirklich wahrzunehmen.

Beim Slow Sex zum Beispiel macht ihr gar nichts. Ihr legt eure Genitalien ineinander, entspannt euch, spürt in jede kleinste Regung hinein und wartet, was passiert. Mag sein, dass es etwas Übung erfordert und zeitlich ist der Slow Sex eher anspruchsvoll. Und lustig wird es, wenn ihr versucht, den schlaffen Penis einzustöpseln und ineinander zu bleiben. Letztlich geht es beim Slow Sex darum, den intimsten Bereich unseres Lebens zu entschleunigen, von Hektik und Leistungsdruck zu befreien und die heilende und spirituelle Kraft der Erotik freizusetzen. Männer brauchen endlich einmal nicht „abzuliefern“, denn sie dürfen ihre Körpersäfte für sich behalten. Und so manche Frau hatte ihren ersten vaginalen Orgasmus nur durch die Technik des absichtslosen Spürens, auch wenn das nicht das Ziel der Übung ist. Es geht um Verbindung und Genuss. Dasselbe, was in der Achtsamkeitspraxis gelehrt wird, nur eben auf die Sexualität bezogen.

Auch beim Soul Sex geht es um Präsenz und Abkehr vom Perfektionismus und der Rückkehr zur Wahrnehmung der Lust. Ihr tut viel für die Gesundheit eurer Seele und eurer Beziehung, wenn ihr euch von Leistungsdruck im Bett abwendet und nicht mehr wie ferngesteuert funktioniert. Die Kernaussage des Soul Sex ist: Der Sex soll wieder mit dem Herzen verbunden werden. Genussvoll fallen lassen ist die Devise. Auf dem Weg dorthin geht es vor allem darum, sich selbst (wieder) der beste Freund, die beste Freundin zu werden. Denn Sexualität ist wie Nahrung für unseren Körper. Sind wir in Kontakt mit unserem Körper, nähren, entspannen und beleben uns sexuelle Erlebnisse.

Das Maß der Dinge ist wichtig: Wie viel Raum geben wir dem aktuellen Moment?

Uns 24 Stunden täglich dem Moment mit Haut und Haar zu verschreiben, hilft nicht nur, wertschätzender mit dem Leben an sich umzugehen. Bewusst im Körper und Geist zu sein, wirkt sich ganz natürlich auf unser Sexleben aus. Beim Sex ist das Jetzt absolut entscheidend. Es gibt nichts Nervtötenderes als immer gleiche Nummern zwischen Fernsehen und Einschlafen. Da entfaltet das Wort „Beischlaf“ seine volle Wirkung: Gähnende Langeweile. Macht euch bewusst, dass ihr nicht mit ganzem Herzen „Ja“ zum Augenblick sagt, wenn ihr beim Sex an den Einkaufszettel von morgen oder einen vergangenen Konflikt denkt, und dass ihr einem Moment, der sehr kostbar ist, eine Abfuhr erteilt, indem ihr nicht präsent seid. Sind wir aber achtsam, welche Welten erschließen sich uns? Da wird der lange bekannte Partner wieder spannend, denn wir wissen nicht, was als nächstes passieren wird. Der Raum ist offen. Betrachten wir unseren Partner mit Achtsamkeit, entdecken wir vielleicht auch nach vielen Jahren neue Züge an ihm. Er kann sich neu entfalten in unserem Blick. Das, was ist, voll und ganz annehmen, heißt die Devise.

Ein 5-Minuten-Ritual für Paare

Eine schönes Ritual für Paare könnte sein, nach einer Zeit des in sich selbst Hineinspürens dem Partner gegenüberzusitzen, einander in die Augen zu schauen und wirklich hinzuschauen, was wir sehen. Wie ist seine Körperhaltung? Welche Energie entströmt ihm? Vielleicht sieht er oder sie müde aus, verschmitzt, romantisch oder einfach nur heiß? Und was macht das mit mir, mit meinem Herzen, mit meiner Lust auf diesen Menschen? Wird es zum Sex kommen? Natürlich kennt der Partner meine Knöpfe nach ein paar Jahren in der Beziehung. Aber was wäre, wenn ich nicht wüsste, ob und wann er sie drückt? Möglicherweise entsteht ein achtsames Gespräch, in dem ihr eine Verbundenheit teilt, die tiefe Nähe erzeugt? Oder ihr streichelt einander, ohne auf ein Ziel hinzusteuern? Und vielleicht wühlt ihr danach in den Laken wie noch nie zuvor? Wer weiß das schon! Jeder Moment ist neu. Lasst euch mit Haut und Haar aufeinander ein und seid bereit, wunderbare Geschenke anzunehmen.

Übung für Singles

Partner gelten zwar als Entwicklungsbeschleuniger, doch auch als Singles bleiben wir sexuelle Wesen. Letztlich ist Sexualität der Ursprung allen Lebens. Ohne Sex wären wir alle nicht hier. Probiert doch mal aus, nackt auf dem Bett zu liegen, tief in den Bauch zu atmen und das Pulsieren eurer Yoni zu spüren. Gebt den Signalen nach, die von eurem Körper ausgehen. Vielleicht möchte deine Brust oder dein Gesicht liebevoll gestreichelt werden? Es gibt kein Ziel, nur die Erfahrung zählt. Schenke dir selbst Liebe, drücke sie körperlich aus und nimm wahr, wie sie sich anfühlt. Das ist alles.

 
 

Den vollständigen Beitrag mit weiterführenden Buchempfehlungen zum Thema finden Sie in Séparée No.21.

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