Text: Marie Vogel
Fotos: Miller_Eszter/stock.adobe.com
Ich habe es endlich geschafft! Ich bin ausgezogen aus der gemeinsamen Wohnung. Ich habe ihn verlassen. Und habe tatsächlich geglaubt, die Sache sei dann erledigt. Nichts da. Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit. Ich muss mich wieder zusammenpuzzeln, auf meine eigenen zwei Beine stellen und vor allem muss ich hinschauen und verstehen, wie es soweit überhaupt kommen konnte. Ich war emotional abhängig.
Es war der Sommer 1996: das Abi in der Tasche und große Pläne im Kopf. Ich war hungrig auf die Welt und das Leben. Werbetexterin wollte ich werden. Geschichten erzählen. Menschen berühren. Drei Tage nach der Abifeier dann der erste Tag in einer Werbeagentur irgendwo in Deutschland. Da stand ich ziemlich verloren mit meinen 18 Jahren. Ein bisschen naiv und blauäugig, aber mit dem Ziel mich da durchzubeißen. Sich zurückzunehmen, höflich zu sein, sich nicht in den Vordergrund zu drängen und bescheiden zu sein. Das war das, was mir meine Eltern mit auf den Weg gegeben hatten. Es allen recht zu machen und diplomatisch zu sein gehörte auch dazu. Wenn ich Kritik übe, dann packe ich sie am liebsten ein in schönes Geschenkpapier und binde noch eine rote Schleife drum herum. Oder ich ducke mich weg. Ja niemandem auf die Füße treten. Ja nicht laut sein.
Das kalte Wasser, in das ich geschubst wurde, war sehr kalt. Denn mit Zurückhaltung gewinnst du im Werbegeschäft keinen Blumentopf. Das war mir schon am ersten Tag klar. Auf ihre ganz eigene Weise machte mich diese neue Welt aber an. So flach die Hierarchien waren, so plump waren auch oft die Witze und dummen Sprüche. Manchmal erinnerten mich die Tage mehr an die Abschluss-Klassenfahrt nach Budapest als an Arbeit.
Meine Jugendliebe plätscherte zu dieser Zeit nur noch so vor sich hin. Wir wussten beide, dass das Leben uns in andere Richtungen spülte. Keiner hatte den Mut, Schluss zu machen. Wir taten nichts dafür und auch nichts dagegen. Wir saßen es einfach aus. Bis Sebastian eines Tages in der Agentur auftauchte und den Stein ins Rollen brachte.
Ich lernte ihn erst nach ein paar Wochen kennen. Sebastian war ein ausgesprochener Eigenbrötler. Machte sein Ding. Die Kolleginnen und Kollegen interessierten ihn nicht. Und sowieso: Die waren doch alle faul, inkompetent und überhaupt nicht seine Kragenweite. An sich hätte ich da schon stutzig werden müssen. In Sebastians Augen waren immer alle Anderen schuld. Er nicht. Und alle Anderen seien auch neidisch auf ihn. Ich weiß heute nicht mehr so genau, was mich an ihm faszinierte. Wahrscheinlich, dass er ein Macher war, einer, der „anscheinend“ selbstbewusst durch die Welt ging und sich das nahm, von dem er meinte, dass es ihm zustünde. Dieses „me first“ hat er nicht offensiv gelebt, sondern geschickt eingefädelt. Nein, er war nicht der Erste am Buffet. Nebenbei gesagt – Buffet war nicht seine Liga. Sebastian ließ sich gern bedienen. War das Buffet unvermeidbar, dann war sein Teller so voll, dass die Sauce sich ihren Weg über den Rand bahnte. Bis wir aber ein Restaurant seiner Wahl gefunden hatten, konnten schon mal bis zu zwei Stunden ins Land gehen. Wenn in der einen Kneipe zu wenige andere Gäste saßen, dann waren es in der nächsten Lokalität zu viele. Wir haben es tatsächlich mal geschafft, den ganzen Abend durch Venedig zu laufen auf der Suche nach einem Restaurant, das seinen Ansprüchen genügte. Saßen wir endlich, dann war klar: bitte einmal die Extrawurst. Sebastian konnte kein Gericht so lassen, wie es war.
In anderen Momenten konnte Sebastian unfassbar charmant sein, Geschichten erzählen, Komplimente verteilen. So hat auch unsere gemeinsame Geschichte begonnen.
Zu schnell, zu viel, zu intensiv. Kein langsames Herantasten und Beschnuppern, sondern Nachrichten, die Sehnsucht versprachen, die endlos ist. „Ich kenne keine Bremse, keinen Fallschirm, wir gehören zusammen, du bist Licht, wo ansonsten Schatten ist“. SMS am frühen Morgen, am Vormittag, am Nachmittag und auch in der Nacht. Lovebombing nennen Fachleute das.
Am Anfang dachte ich wirklich: Hey, Jackpot. Ich glaubte, die Liebe meines Lebens gefunden zu haben. Hörte die Alarmglocken nicht. Auch nicht, als mich zwei Tage später Nachrichten voller Zweifel aus dem Schlaf holten. „Du bist so jung, wir kennen uns kaum. Ich weiß nicht, ob das gut mit uns werden kann.“ Oder: „Ich tue dir nicht gut“. Er hat mich vor seiner eigenen Person gewarnt. Und anstatt die Finger von dem Mann zu lassen, bin ich auf dieses Katz-und-Maus-Spiel eingegangen. Später habe ich gelernt, dass es an meinem Bindungsstil liegt, dass ich so handele, wie ich handele. Unsicher-ambivalent. Heißt ganz praktisch: Ich habe das Gefühl, mir Liebe verdienen zu müssen, bin eine große Zweiflerin. Der Gedanke, ich bin nicht genug, ich muss mich anstrengen, begleitet mich, seit ich denken kann. Was Sebastian angeht, habe ich mich mächtig angestrengt. Ihn zu verstehen. Überzeugende Argumente zu finden, die sein Verhalten erklären. Ihn zu verteidigen. Und – ich habe große Verlustängste. Kann mich aus Beziehungen, die mir nicht guttun und destruktiv sind, sehr schlecht lösen. Der Kopf sagt geh, das Herz will nicht mitmachen. Sein Bindungsstil ist der Gegenentwurf: unsicher-vermeidend. Das bedeutet, Sebastian hat irgendwann mal in seinem Leben gelernt: Es ist besser, wenn ich Menschen nicht zu nah an mich ranlasse, denn wenn ich das tue, dann werde ich sowieso verletzt. Beide Bindungsstile ziehen einander an. Die Angst sich zu binden, haben im Grunde beide. Und sehnen sich doch nach der großen Liebe.
Mal hü, mal hott – das ging ein gutes halbes Jahr so. Dann waren wir so was wie ein Paar. Aber nur im stillen Kämmerlein. Sebastian wollte auf gar keinen Fall, dass jemand in der Agentur davon Wind bekam – und ich habe das Spiel zwei Jahre lang mitgespielt. Dann erst wurde unsere Beziehung durch eine Kollegin aufgedeckt.
Wenn ich mir Fotos unserer ersten gemeinsamen Jahre anschaue, dann sehe ich keine Frau an der Seite eines deutlich älteren Mannes (uns trennen 15 Jahre), sondern ein Mädchen, das so verkrampft nach Liebe gesucht hat und glaubte, der Retter sei gekommen. Eine Beziehung auf Augenhöhe haben wir von Beginn an nicht gelebt. Ich habe aufgeschaut, Sebastian idealisiert, ihn auf einen „imaginären Thron“ gehoben und ein bisschen versucht, in seinem Licht zu scheinen. Bedeutet: Mit seinem geringen Selbstwertgefühl musste er sich nicht auseinandersetzen; das konnte er auf mich projizieren, und ich wiederrum konnte meine Minderwertigkeit durch ihn abmildern. Dass das wenig mit Liebe zu tun hat, das habe ich erst vor ein paar Jahren verstanden.
Malediven, Seychellen, Mauritius oder fünf Tage New York zwischendurch. Mal eben so. Was kostet das Leben. Den Park vor unserer Haustür, die dicken Eichen, die Geschichten zu erzählen hätten, wenn sie denn könnten, die Forsythien, die am Wegesrand blühten, die vielen Kneipen in der Umgebung – all das haben wir nicht gesehen. Dafür jede Menge schöne Hotelanlagen. Dafür hatte Sebastian ein Händchen. Und war in solchen Dingen auch spendabel, dafür musste dann bei Lebensmitteln gespart werden. Ging ich einkaufen, dann nicht ohne den Rat, bitte die Joghurtpreise zu vergleichen, nie die Markenprodukte zu kaufen und ja nicht zu viel Geld für „Kinkerlitzchen“ auszugeben. Kinkerlitzchen sind für mich Dinge, die das Leben schön machen. Wenn ich mich heute an solche Situationen erinnere, mit Abstand darauf schaue, dann verstehe ich nicht, wo all die Jahre mein Widerstand und mein Ärger waren. Nicht da. Habe ich nicht gespürt. Kannte ich nicht. Ärger und Wut lerne ich gerade. Immer noch. Und auch, dass diese Gefühle okay sind. Und dann weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. So viel hat sich angestaut. In meinem Kiefer, der knackt, in meinen Schultern und in meinem Nacken, der verspannt ist. Und ich merke es an meinem Blutdruck. Ich koche vor Wut, wenn ich erkenne, wie sehr ich mich angepasst und verbogen habe, aus Angst für mich und meine Bedürfnisse einzustehen. Harmonie – das wollte ich. Um Konflikte und Auseinandersetzungen habe ich einen großen Bogen gemacht.
Sebastian mochte keinen Schmuck. Also habe ich keinen getragen. Lippenstift, Lidschatten und Nagellack fand er doof. Also habe ich darauf verzichtet. Hatte ich mir ein Kleid gekauft, das figurbetont war, erzählte er mir, dass ich mich wie meine Mutter kleiden würde, oder dass diese Kleidung nicht meinem Alter entsprechen würde. Die kleinen Spitzen und Nadelstiche gab es zu Beginn unserer Beziehung nicht. Ganz leise, subtil und fast unbemerkt kamen sie über die Jahre daher. Hier ein kleiner böser Kommentar zur Figur – natürlich immer als Spaß getarnt – dort die Kritik an alltäglichen Haushaltsdingen. Putzte ich die Wohnung, war es nicht sorgfältig genug. Stellte ich mich in die Küche, um das Abendbrot zuzubereiten, nahm er mir kopfschüttelnd das Messer aus der Hand und murmelte, dass „man so ja wohl keine Zwiebeln schneide“. War ich anderer Meinung als er, stand ich nach seinem Empfinden nicht zu ihm. Äußerte ich leise Kritik an seinem Verhalten, war ich überempfindlich. Lieferte ich Argumente, die meine Positionen und Thesen stützen, dann „überinterpretierte“ ich in seinen Augen und sowieso „sei ich viel zu verkopft“ und hätte „meine Nase in zu viele Bücher gesteckt“. Fehlte Geld in seinem Portemonnaie, verdächtigte er mich. Suchte er nach seinen (!) wichtigen Unterlagen und Dokumenten und fand sie nicht, dann war ich wohl diejenige, die sie verlegt oder falsch abgeheftet hatte. Wenn ich mich hin und wieder doch mal traute, mich aufzurichten und meinen Mund aufzumachen, drohte er „im Scherz“ mit seinem Anwalt. Ich habe selten so gelacht. Die Liste ließe sich noch munter so fortsetzen. Eine Freundin meinte neulich erst, ob es auch Dinge an mir gegeben hätte, die einfach so okay gewesen waren. Ich weiß es nicht.
…
Wie Marie Vogel schließlich ihren Weg fand, lesen Sie in Séparée No.30.
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