Mona verstaute Stative und LED-Fluter im Kofferraum, die Kameratasche legte sie auf den Beifahrersitz. Mit geübten Griffen kontrollierte sie, ob alle Objektive vorhanden und die Akkus geladen waren. Steckte die Speicherkarte? Ihre Bewegungen folgten der strengen Choreografie langjähriger Routine. Erst als sie den Schlüssel im Zündschloss drehte, erinnerte sie sich an George.
George lehnte am Kotflügel. „Nimmst du mich nicht mit?“
Der antrainierte Tunnelblick hatte Mona seine Existenz vergessen lassen. Ihren Irrtum erkennend, sortierte sie die Ausrüstung vom Beifahrer- auf den Rücksitz. „Tut mir leid.“ Sie hielt ihm die Wagentür auf. „Wenn ich arbeite, bin ich wie hypnotisiert. Anders krieg ich ’ne Krise.“
Sie fuhren über die Mehrspurige. Die Dämmerung legte sich wie ein Farbfilter über die Stadt, übrig blieb Grau. Und das Orange der Straßenbeleuchtung, die um diese Zeit zitternd ansprang. George betrachtete Monas Profil; sein Blick wanderte von der etwas zu spitz vorspringenden Nase zu den umso zarter gewölbten Lippen. „Eine Schande, wie wir das Leben verleugnen!“, konstatierte er. „Sieh dich an, Mona. Nein, du sollst natürlich auf die Straße sehen. Was ich meine, ist, dass nicht nur du, dass wir alle – wie hast du es genannt? – ‚hypnotisiert‘ sind. In unsere Kalender schreiben wir die Termine für übernächstes Jahr. Wir bauen und tun und schaffen und füllen Steuererklärungen aus; wir meinen, diese Dinge seien von Bedeutung. Struktur bis zum Umfallen, verstehst du? Aber wir machen uns was vor. Das Leben ist eine verdammte Ausnahmesituation, das kann man nicht strukturieren! Wenn’s vorbei ist, ist’s vorbei. Und trotzdem können wir nicht anders. Komisch, oder?“
„Seid ihr Journalisten alle so drauf?“
„Nur ich. Ich möchte dich packen und auffressen.“
Sie parkten im Schatten des Bahndamms. Das Schwimmbad lag unweit des Übergangs hinter einem metallenen Bauzaun. Es wurde vor Jahren stillgelegt. Mona hatte nicht über Georges Worte nachdenken wollen. Sie fand es bequemer, sie als Wehklage eines übermüdeten Reporters abzutun. Als sie jedoch die Fotoausrüstung über das verwahrloste Grundstück trugen und schließlich die Bretter, mit denen der Eingang des Bades vernagelt war, unter gemeinsamer Anstrengung wegstemmten, begann sie zu ahnen – noch nicht zu verstehen – aber zu ahnen, was George gemeint haben könnte.
Drinnen roch es nach feuchtem Keller, auch der typische Chlorgeruch hatte sich nicht restlos verflüchtigt. Mona und George fanden ihren Weg durch die Eingangshalle, deren Boden von Mörtelstaub und hereingewehtem Laub bedeckt war. An die Wand über der Rezeption hatte jemand „Ich war hier“ gesprayt.
„George, hilf mir mal, den Fluter über das Drehkreuz zu hieven. Vorsichtig! Ja, so.“
Scherben knirschten unter ihren Sohlen; die Glasfront, die den Schwimmbereich begrenzte, gab es nicht mehr. Das 50-Meterbecken lag offen vor ihnen.
„Phantastisch!“
Durch das lecke Oberlicht fiel ein breiter Streifen Mondlicht auf das im Becken gesammelte Regenwasser. Die Wasserfläche reflektierte den Strahl, lag ansonsten aber schwarz und undurchdringlich da.
„Wenn wir den Fluter dort aufstellen, ist es perfekt“, sagte Mona. Gerade, als sie in ihre gewohnte Betriebsamkeit verfallen wollte, stockte sie.
George hatte die Stative und das Zubehör abgelegt und sich dem Becken zugewandt. Schmal stand er da, blass. Die Reflexe des Wassers huschten über sein Gesicht. Er stand in den Trümmern türkisfarbener Fliesen, in Schutt, Scherben und Müll. Vor diesem Hintergrund schien er so verletzlich, so schutzlos, seine Haut so dünn, dass Mona darüber erschrak. Die Ahnung, die in ihr gekeimt war, wuchs und reifte, und sie begriff, dass sie diesen Ort nicht bloß dokumentieren wollte. Sie musste das Menschsein selbst in ihre Bilder bannen – diese Verletzlichkeit, die sichtbar wurde, wenn die Strukturen brachen und das Leben darunter zum Vorschein kam.
„Du willst, dass ich mich ausziehe? Hier?“
„Bitte, George.“
„Warum ich?“
Während er sich vor Monas Augen aus seiner Kleidung schälte, konnte er seine eigene Erregung nicht verhindern, geschweige denn verbergen. Unbehaglich fröstelnd trat der nackte George von einem Fuß auf den anderen. Fahle Gänsehaut überzog seinen Körper. „Pardon, ist mir unangenehm“, gestand er mit Blick auf sein hart aufgerichtetes Geschlecht. „Warum machst du solche Augen? Das hättest du wissen müssen.“ Er versuchte, sich zu entspannen, verkrampfte aber noch mehr und ähnelte bald einer schlechten Karikatur seiner selbst.
Monas Augen schwammen in Tränen. George in seiner Nacktheit an diesem Ort des Verfalls rührte sie. „Du hast recht“, sagte sie, „so recht. Es ist ’ne Ausnahmesituation. Du und ich, wir sind nicht unsterblich, und keine Struktur der Welt wird was dran ändern. Das macht mir Angst, George, so Angst. Wie soll man das ertragen können?“
„Mona, liebe Mona“, sprach er sanft ihren Namen, und wieder: „Mona, liebe Mona.“ Dann nahm er sie in seine Arme und hielt sie, als gäbe es kein Morgen.
Minutenlang standen sie so. Bis Mona den Kopf hob und ihre Lippen seinen Mund fanden. Sie nahm den Kuss in einer Intensität wahr, die sie schmerzte. Sie wusste, dass es das Leben war, das schmerzte, und sie wollte eins werden mit diesem Schmerz. Und sie wollte nackt sein, weil sie sich nackt fühlte. Ihre Hände zitterten. George musste ihr mit den Knöpfen helfen, auch mit Gürtel und Reißverschluss. Er befreite sie von der Wäsche und griff lustvoll in ihr weiches Fleisch. Mona drängte ihm entgegen. Ihre Hände fuhren über seine Brust, seinen Bauch, weiter hinab, umfassten das steife Glied, das unter ihren Fingern zuckend anschwoll. George verlor die Beherrschung. Er packte fest ihre Schenkel. Er schob sie auseinander, die Lücke mit dem eigenen Körper ausfüllend. Mit einem Ruck hob er Mona hoch und drückte sie gegen die Fliesenwand. Kalte Keramik stach in ihren Rücken, zerschnitt ihre Haut. George hielt sie, und als sie auf ihn glitt, keuchten sie beide. Sein Atem strich in warmen Wellen über ihren Hals.
Nachher kauerten sie umschlungen vor dem Schwimmbecken, ihr Spiegelbild im schwarzen Wasser betrachtend. Mona hielt George, hielt ihn fest, und wusste doch, dass sie ihn nicht halten konnte. Sie dachte, dass alle Augenblicke endeten und wie einsam sie beide im Grunde waren. Wieder fühlte sie den Schmerz, stärker jetzt. Aber ihr war auch, als habe sie einen verschwommenen Blick auf etwas Wahres werfen können, etwas das sie gleichermaßen berührte und beunruhigte. So, als habe sie das Objektiv gewechselt und dadurch den Winkel ihres Fokusses vergrößert; sie konnte sehen, was zuvor hinter dem Bildrand verschwand. Ich war hier, ging es ihr durch den Kopf. Eine Träne lief über ihr Gesicht.